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Tod im Palazzo

Tod im Palazzo

Titel: Tod im Palazzo
Autoren: Magdalen Nabb
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hat ja einen Bruder, aber Sie haben ihn sicher nicht gesehen. Mir war immer, als würde er ihn beneiden. Dieses kleine Mädchen, Fiorenza. Sie haben mich einmal mit ihr besucht, ich weiß nicht warum, denn ich war viel zu krank, um zu ihr sprechen zu können, aber ich erinnere mich trotzdem sehr gut an sie. So klein und voller Energie. Ich habe sie bei der Beerdigung meines Vaters wiedergesehen, und da wurde mir klar, daß er solche Kinder haben wollte. Ich weiß, es gab Zeiten, da war ihm mein Anblick unerträglich. Früher habe ich unten bei ihm gesessen, aber ich konnte sehen, wie sehr er darunter gelitten hat, daher bringt mir Grillo jetzt das Tablett hoch. Ich bin für jeden eine Last und habe nichts dafür zu bieten.«
    Der Wachtmeister spürte, daß es stimmte, und mochte keine banalen Einwürfe erheben. Er erinnerte sich aber an Catherine Yorkes Brief.
    »Es existiert ein Brief«, sagte er, »den Catherine Yorke an ihren Bruder geschrieben hat. Darin war auch von Ihnen die Rede. Sie und Ihr Vater hätten oft von Ihnen gesprochen, Ihr Vater hat gelitten, wie Sie selbst gesagt haben, aber deswegen, weil er Anteil genommen hat. Sie schrieb: ›Wenn wir ihn nur mit uns nehmen könnten.‹«
    Neris Augen leuchteten auf. »Das hat sie gesagt?«
    »Und sie hat es so gemeint. Sie sagte, es hat ihr immer geholfen, hierher zu kommen, wenn sie traurig war.«
    Der Wachtmeister erkannte, daß er der armen Kreatur die Zuneigung eines inzwischen toten Menschen offerierte, und so fügte er hinzu: »Ihre Tante Fiorenza hat auch von Ihnen gesprochen. Sie sorgt sich um Ihre Gesundheit und möchte, daß es Ihnen gutgeht. Sie hat mich gebeten, Ihnen zu helfen. Ich kann das nur, wenn Sie mir ebenfalls helfen.«
    Neri schwieg. Wieder hatte der Wachtmeister das Gefühl, er könnte aufstehen und zu William hinuntergehen, etwas Sinnvolles tun, statt hier zu sitzen und auf die Wahrheit zu dringen, die nichts anderem als seiner eigenen Genugtuung dienen würde. Und war seine persönliche Genugtuung ein Menschenleben wert?
    Dann sage Neri: »Ich werd's versuchen.«
    Danach hätte ihn nichts mehr zum Gehen bringen können.
    »Also, versuchen Sie's, erzählen Sie mir, was in jener Nacht passiert ist, als Ihr Vater starb.«
    »Es gab einen Streit…«
    »Wo waren Sie?«
    »Ich war… in meinem Badezimmer… ich war aufgestanden. Also, von dort aus kann man mithören. Dann bin ich in mein Wohnzimmer hinuntergegangen, wo es eine Verbindungstür gibt. Ich hatte Angst.«
    »Wieso hatten Sie Angst?… Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ein Licht anmache? Stört es Sie?«
    »Später. Ich will Ihnen erst noch erzählen…«
    Für ihn war es noch immer die Beichte. Der Wachtmeister fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, den Priester spielen zu müssen, aber er konnte kaum etwas anderes tun, wenn er die Wahrheit hören wollte. Er würde die große, bedrückende Schuld eines Unschuldigen ertragen müssen.
    »Ich bin hinuntergegangen, weil sie sich manchmal so doll gestritten haben. Weil ich Angst um meinen Vater hatte. Trotzdem, ich hätte nicht an der Tür lauschen sollen. Das war feige. Eigentlich will ich das Richtige tun, aber meine Handlungen sind am Ende immer feige und schlecht.«
    »Es war nicht so unvernünftig«, sagte der Wachtmeister, »daß Sie zur Stelle sein wollten, falls Gewalt ausbrechen würde, zugleich aber Angst hatten, sich einzumischen. Jeder hätte sich so verhalten.«
    »Glauben Sie? Glauben Sie wirklich?«
    »Nun ja, das ist nur meine persönliche Meinung.«
    Es ließ sich einfach nicht leugnen. Er war nicht ganz richtig im Kopf. Dieses kindliche Vertrauen in den brennenden Augen, das selbst in dem Halbdunkel zu erkennen war, irritierte den Wachtmeister. Es war nicht normal, und es verwirrte ihn. Auch das mag zu dem beigetragen haben, wie sich die Dinge dann entwickelten.
    »Tja…« – Neri verschränkte die großen Hände und begann, sie rhythmisch zu kneten –, »ich bin froh, daß Sie es so sehen. Aber dennoch, wenn ich die Tür geöffnet hätte, hätte meine… sie hätte all diese Dinge nicht gesagt… nicht in meiner Gegenwart. Ganz bestimmt, und mein Vater würde dann noch leben.«
    »Was hat sie zu ihm gesagt?«
    »Sie haben sich über eine Scheidung gestritten. Hatten sie schon oft, mehr als einmal, aber diesmal hatte sich mein Vater entschlossen, und wie er vorgehen wollte, das sollte an ihr liegen. Wenn sie nicht einwilligte, würde er Hugh Fidos Namen benutzen – verstehen Sie! Auch das war mein
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