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Tod im Dünengras

Tod im Dünengras

Titel: Tod im Dünengras
Autoren: Gisa Pauly
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schweigend einer lautstarken Diskussion
beizuwohnen, ohne sich einzumischen, oder einfach nur dabeizusitzen und an
etwas anderes zu denken. Nach dieser Erkenntnis hatte er seine Bemühungen
gänzlich eingestellt und war dankbar gewesen, dass niemand mehr versuchte, ihn
in ein Gespräch zu ziehen, das ihn schon beim Zuschauen schwindelig machte.
    Â»Dieser herrliche Strand!«, hörte er in seinem Rücken. »Ohne die
vielen Strandkörbe gefällt er mir noch besser! Nur dieser graue Himmel! So
etwas gibt es in Italia nicht. Und die Sonne …«
    Erik hörte ein verächtliches Schnalzen. Bei allem, was Carlotta
mittlerweile an Sylt liebengelernt hatte – mit der Dauer und der Kraft des
Sonnenscheins war sie nie zufrieden.
    Â»Carolina! Wird in deinem Chor auch ein Lied über das Meer
gesungen?«
    Nein, nicht auch das noch! Seit Carolin dem Inselchor beigetreten
war und daraufhin den Beschluss gefasst hatte, später Sängerin zu werden, gab
es im Hause Wolf keine ruhige Minute mehr. Dabei war auf Carolins Einsilbigkeit
bis dahin stets Verlass gewesen, sie war eben ganz Eriks Tochter. Es reichte,
dass Felix genauso lärmend war wie seine italienischen Vorfahren und genauso
gern und laut redete wie sie. Erik war immer dankbar gewesen, dass aus Carolins
Zimmer selten ein Laut drang und dass sie stundenlang schweigend neben ihm
sitzen konnte.
    Neuerdings aber sang sie. Sehr laut, sehr enthusiastisch und vor
allem den lieben langen Tag. Wenn er sich anfänglich noch über die hübsche
klare Stimme seiner Tochter gefreut hatte, so war es damit bald vorbei gewesen.
Manchmal war er sogar drauf und dran, ihr zu verraten, wie wenig er daran
glaubte, dass ihr Talent für eine Karriere ausreichte. Aber dann brachte er es
doch nicht übers Herz und hoffte, dass ihr diese Erkenntnis irgendwann selbst
kommen würde. Hoffentlich bald!
    Das wiederholte er leise, als Carolin anstimmte: »Wir lieben die
Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde raues Gesicht …«
    Erik sah sich um. Hoffentlich war kein Bekannter in der Nähe, der
mitanhören konnte, wie Carolin gegen die Brandung ansang. Und dass jemand ihre
Gesangsdarbietung beobachtete, wollte er erst recht nicht. Denn Carolin sang
nicht nur sehr laut und unbekümmert, sondern machte auch vor den Posen einer
Operndiva nicht halt. Kein Zweifel, die Mitgliedschaft im Inselchor tat ihrem
Selbstbewusstsein gut, darüber hätte sich Erik eigentlich freuen sollen. Und
seit sie wusste, dass sie bei dem sehnsüchtig erwarteten Chorwettbewerb ein
Duett mit der Solosängerin bestreiten würde, war ihr Selbstwertgefühl noch
weiter gestiegen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie als einziges
Chormitglied Noten lesen und vom Blatt singen konnte, ärgerte sie sich nicht
einmal mehr über ihren Bruder, der sich über das Volkslieder-Repertoire des
Inselchors lustig machte. Nein, Carolin stand zu ihrer Entscheidung, den grünen
Wald und die Vögelein darin zu besingen oder eben die brausenden Wogen.
    Erik konnte nicht umhin, seine Tochter für ihre aufrechte Haltung zu
bewundern. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, sie hätte sich für die Musik
von Amy Winehouse oder Britney Spears begeistert. Er wollte eine ganz normale
Tochter, die sich so verhielt wie ihre Klassenkameradinnen. Während der paar
Monate, in denen Carolin unbedingt Schriftstellerin werden wollte, hatte ihn
schon ihre Schwärmerei für Günter Grass befremdet. Kein Wunder, dass Carolin so
wenig Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Wer keine einzige CD von Tokio Hotel
besaß und von Rockmusik weniger verstand als der eigene Vater, der war zum
Außenseiter verdammt. Der Chorwettbewerb des Inselchors würde Carolins
Beliebtheit nicht steigern. Und das Schlimmste war, dass ihr das vermutlich
völlig gleichgültig sein würde.
    Erik entfernte sich ein Stück, um Abstand zu seiner Tochter und
seiner Schwiegermutter zu gewinnen. Er würde sich ihnen erst wieder nähern,
wenn sämtliche Strophen von »Wir lieben die Stürme« heruntergesungen waren.
    Erfreut stellte er fest, dass Felix ihm folgte. Dem war die Singerei
noch lästiger als dem Vater, der sich immerhin einen großen Teil des Tages im
Polizeirevier Westerland aufhalten durfte, während Felix dem Gesang seiner
Schwester viel häufiger ausgesetzt war. Zu Hause erschlug er jedes Volkslied
mit seiner Heavy-Metal-Musik, doch am
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