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Tod im Dünengras

Tod im Dünengras

Titel: Tod im Dünengras
Autoren: Gisa Pauly
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    D as Meer war an diesem Tag von
einem schönen dunklen Blau. Wenn eine Woge sich aufbäumte und mit gischtigen
Fingern nach der Brandung griff, entstand, kurz bevor sie zusammenbrach, ein
wunderbares Grün direkt unter dem Scheitelpunkt der Welle. Erik Wolf zwang
sich, immer wieder nach diesem Grün Ausschau zu halten. So konnte er sich dem Meer
zuwenden und versuchen, das zu ignorieren, was hinter seinem Rücken geschah und
wofür er sich am liebsten bei der kompletten Nordsee entschuldigt hätte.
    Es war ein früher Sonntagmorgen. Die Hochsaison war vorbei, die
Nachsaison brachte zwar noch viele sonnige Tage, aber sie begannen nicht mehr
leuchtend blau, sondern grau und verhangen. Auch dieser Morgen hatte sich durch
einen Dunstschleier ans Licht gedrängt, jetzt aber stand er in einem klaren
Grau über ihnen, das nicht weniger schön war als das Blau des Hochsommers.
Deswegen war Erik bereit gewesen, seinen ersten freien Tag nach der Ankunft
seiner Schwiegermutter auf Sylt mit einem Strandspaziergang zu beginnen. Mamma
Carlotta hatte es sich gewünscht, und er war gern darauf eingegangen. Sogar die
Kinder hatten sich bereit erklärt, ihrer Nonna zuliebe sonntags früh
aufzustehen, und sich, ohne zu murren, ihre winddichten Jacken übergezogen.
    Am Kliffkieker waren sie zum Strand hinabgestiegen und wanderten nun
gen Norden. Erik liebte es, wenn der Strand noch menschenleer war. Er genoss
die Stille, die in Wirklichkeit alles andere als still war, liebte das Getöse,
mit dem die Brandung an den Strand schlug, denn still waren sie trotzdem, diese
frühen Stunden am Meer, in denen nur die Natur lärmte und alles andere schwieg.
    So jedenfalls hatte Erik sich diesen Spaziergang vorgestellt.
Schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet oder in den Himmel, mal auf die Füße,
um zu beobachten, wie sie sich in den Sand gruben, oder zurück, um die Spur zu
verfolgen, die sich hinter ihnen aufreihte.
    Die Strandspaziergänge, die er mit Lucia gemacht hatte, waren so
gewesen. Seiner Frau war das Schweigen genauso schwergefallen wie ihrer Mutter,
aber angesichts der Weite des Strandes und des Meeres war auch sie verstummt,
hatte ihre Hand in seine geschoben und ihre Verbundenheit schweigend genossen.
Damals hätte er es nie für möglich gehalten, dass einmal etwas so Zufälliges
wie die kurze Unaufmerksamkeit eines Lkw-Fahrers ihre tiefe Verbundenheit
zerstören könnte.
    Er kniff die Augen fest zusammen, um Lucias Bild wegzudrängen.
Schlimm genug, dass die Stimme in seinem Rücken ihn so sehr an Lucia erinnerte,
dass es wehtat. Da half es gar nichts, die Ähnlichkeit zu leugnen, nur weil
Lucia in einem Moment wie diesem geschwiegen hätte.
    Â»Il mare! Magnifico! Wie majestätisch!«
    Noch immer wandte er sich nicht um, weil er sich nicht zusätzlich
zur lauten Stimme, zum Pathos und zum Tempo, mit dem die Worte seiner
Schwiegermutter von der Zunge rollten, auch noch über ihre großen Gesten ärgern
wollte. Und auf keinen Fall wollte er Mamma Carlotta bewundern, obwohl es schon
erstaunlich war, über welchen Wortschatz sie mittlerweile verfügte. Erst recht,
wenn man berücksichtigte, auf welche Weise sie die deutsche Sprache erlernt
hatte: ohne Lehrbuch, ohne Sprachtrainer, ohne Vokabelhefte oder das Lernen
unregelmäßiger Verben. Carlotta Capella hatte Deutsch gelernt, indem sie mit
Lucia und den Kindern am Telefon redete, und hatte ihre Sprachkenntnisse
verbessert, als ihr Nachbar eine Deutsche heiratete, die sich gern in ihrer
Muttersprache unterhielt. Über die Grammatik lernte sie erst etwas, als Carolin
beschloss, Lehrerin zu werden, an ihrer Großmutter ihr späteres pädagogisches
Wirken trainieren wollte und ihr viele schriftliche Aufgaben nach Umbrien
schickte, deren Lösungen sie später am Telefon gewissenhaft überprüfte.
    Erik Wolf, der vierzehn Jahre jünger war als seine Schwiegermutter,
war sicher, dass es ihm niemals gelungen wäre, auf gleiche Weise Italienisch zu
lernen. Er konnte sich nur mühsam verständigen, wenn er in Umbrien war, obwohl
Lucia sich große Mühe gegeben hatte, ihn mit ihrer Muttersprache vertraut zu
machen, damit er sich mit den vielen Tanten, Onkeln, Cousins und all den
anderen Mitgliedern des riesigen Capella-Clans unterhalten konnte. Er hatte es
nicht geschafft. Und irgendwann war er sogar froh gewesen, dass er der Einzige
war, dem es nachgesehen wurde,
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