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Tod eines Lehrers

Tod eines Lehrers

Titel: Tod eines Lehrers
Autoren: Andreas Franz
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morgendlichen und nächtlichen Spaziergänge, während deren er sich entweder auf den Tag vorbereiten oder nach getaner Arbeit abschalten konnte.
    Er zog leise die Tür hinter sich ins Schloss, nicht ohne vorher die Außenbeleuchtung angemacht zu haben, trat durch das Gartentor auf den Bürgersteig, ging vom Rotkehlchenweg hundert Meter geradeaus, bis er zur Hauptstraße kam, überquerte diese und bog nach weiteren fünfzig Metern rechts in den Wald ab, der linker Hand zum größten Teil zum Schloss Wolfsgarten gehörte und von einem scheinbar endlosen Zaun umgeben war. Die ersten Meter waren übersichtlich, doch nach gut hundertfünfzig Metern kamen die dicht an dicht stehenden Bäume, dazwischen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte entstandenes Unterholz und zwei kleinere, weniger gut begehbare Wege, die nach rechts abzweigten.
    Die Temperatur war auf minus zwölf Grad gesunken, ein eisiger, böiger Wind, der aus allen Richtungen zu kommen schien, fegte übers Land, der Himmel war sternenklar, noch drei Tage bis Vollmond, der schon jetzt nur noch eine kaum erkennbare dunkle Kontur an der äußersten linken Seite aufwies. Alles war gefroren, der harte Boden knirschte leise unter seinen Schuhen. Er musstemehrfach kurz anhalten, damit Henry seine üblichen Markierungen machen konnte. Seit er hier wohnte, verging kein Abend, an dem er nicht mit dem Hund diese Strecke lief. Er tat dies mit ausgreifenden Schritten, seine Art, sich fit zu halten. Während der ersten Minuten ließ er den Tag Revue passieren und dachte auch an morgen, wenn er sechs Stunden am Stück unterrichten musste. Sein Beruf machte ihm Spaß, der Umgang mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die an seiner Schule zum Glück noch so etwas wie Anstand und Respekt vor den Lehrern bewiesen. Seit fünfundzwanzig Jahren war er an der Schule, seit vierzehn Jahren Oberstudienrat, im fünften Jahr hintereinander Vertrauenslehrer, und vor drei Jahren wurde er zum stellvertretenden Direktor ernannt. Er unterrichtete Mathematik, Physik und Ethik, wobei sein Ethikkurs wesentlich stärker frequentiert war als der zeitgleich stattfindende Religionsunterricht seines Kollegen Baumann, der sich zwar redlich bemühte, es aber nicht schaffte, den beinahe erwachsenen Jugendlichen Gott und alles, was damit zusammenhing, wirklich nahe zu bringen. Für Schirner selbst war Gott nur eine Fiktion, etwas, das sich die Menschen im Laufe der Jahrtausende zusammengebastelt hatten, woran sie sich klammern konnten, das nicht greifbar war, weil es nicht aus Materie bestand, wovon sie sich aber erhofften, Es oder Er würde ihnen in Zeiten der größten Not beistehen. Schirner tat dies als Blödsinn ab, für ihn gab es keinen Gott, keinen Christus, zumindest nicht so, wie in der Bibel beschrieben und in späteren Zeiten glorifiziert. Er glaubte auch nicht an ein Jenseits, ein Leben nach dem Tod oder Wiedergeburt. Für ihn, einen überzeugten Existenzialisten und Atheisten, wurde man geboren, lebte und starb, um irgendwann zu Asche zu zerfallen. Seine Tochter Carmen dagegen war fest von der Existenz Gottes überzeugt, und er würde einen Teufel tun, sie davon abzubringen. Er hatte versucht ihr klar zu machen, dass es unmöglich ein Wesen geben könne, das zum einen im ganzen Universum und zum andern in jedem Einzelnen existierte. Das sei mathematisch und physikalisch schlicht unmöglich.Sein Versuch war fehlgeschlagen, und jetzt sollte sie ihren eigenen Weg gehen, und sicher würde sie eines Tages jene bittere Erfahrung machen, die ihr zeigte, dass sie nichts als einer Fata Morgana nachgelaufen war.
    Er ging seit zehn Minuten mit leicht gesenktem Kopf in Gedanken versunken durch die mondhelle Nacht, Henry blieb zum x-ten Mal stehen, um das Bein zu heben, als Schirner eine dunkle Gestalt erblickte, die plötzlich aus dem zweiten Weg rechts um die Ecke kam. Schirner zog die Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen – nur sehr selten traf er um diese Zeit noch einen andern Menschen an –, doch er hatte keine Angst, denn dies war eine sichere Gegend mit anständigen Bewohnern, und so gutmütig Henry auch war, so argwöhnisch verhielt er sich Fremden gegenüber. Die Gestalt kam näher, Schirner erkannte die Person, die leichte Anspannung wich, und ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
    »Hallo«, sagte er freundlich, »so spät noch unterwegs?«
    »Ich konnte nicht schlafen. Noch ’ne Runde mit Henry drehen?«
    »Wie jeden Abend. Ganz schön kalt, was?«
    »Hm.
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