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Tod auf der Donau

Titel: Tod auf der Donau
Autoren: Michal Hvorecky
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Amerikaner gönnen sich erst im hohen Alter so richtig Urlaub, bis dahin arbeiten sie sehr hart. Während die Europäer nur noch apathisch auf den Tod warten, umringt von Pflegekräften und bei den eigenen Kindern und Nachbarn verhasst.
    Das Durchschnittsalter der Passagiere hat die Firma mit 73 berechnet. Es tauchen allerdings auch regelmäßig Neunzigjährige auf. Auf seiner ersten Fahrt hatte Martin eine hundertjährige Greisin aus New Jersey in seiner Gruppe, die während der Reise verstarb … sie hatte noch versucht, irgendwie den Hauptplatz von Linz zu erreichen.
    Die Gesellschaft ADC war versucht, jeden aufs Schiff zu bekommen, der Geld übrig hatte, um die Konkurrenten auszubremsen. Sie hatten es dabei auf einen genau definierten Kunden abgesehen, sowohl was die Nationalität als auch dessen Geschmack betraf: Es sollte ein Mensch sein, der an Bord lieber romantische Bücher von Rosamund Pilcher oder Thriller von Tom Clancy oder Robert Ludlum las, als zu saufen und zu feiern. Er folgte dem Reiseführer, buchte die meisten zusätzlichen Ausflüge und kaufte selig all die überteuerten Souvenirs ein, ein Bildchen von Mozart oder zumindest eines von Josip Tito.
    Vor der Wirtschaftskrise waren die Donauschiffe von ADC stets ausverkauft gewesen, besonders im Sommer, und ein jeder Ausfall konnte mit dutzenden Nachrückern kompensiert werden, die auf ein günstigeres Angebot in letzter Minute hofften. Die Firma fand alles über ihre Kundschaft heraus. Der durchschnittliche Reisende männlichen Geschlechts wog 130 Kilogramm, die Frau circa zehn weniger. Sobald sie eine Kreditkarte benutzten, verteuerte sich ihre Reise um ein Drittel. Sobald sie einen Enkel mitnahmen um die Hälfte. Manwusste, was sie zwei Tage vor der Abfahrt im Supermarkt eingekauft hatten und wie viel das gekostet hatte, wie es um ihre familiären Bindungen stand, ob der Sohn ein Falschspieler und seine Braut arbeitslos war, welche Webseiten sie aufsuchen, wie viele Kartoffelchips sie beim Fernsehen zu sich nahmen und so weiter.
    »Hey, du, bring uns zum Schiff! Worauf warten wir noch? Wir werden uns beschweren! Ich verbitte mir das!« Peggy, eine der Mitreisenden, bekam einen Wutanfall, ein neurotisches Monstrum, das die Augen weit aufriss, die so eine furchteinflößende Größe anzunehmen schienen.
    »Ja doch, wir wollten was zu essen! Was soll das bedeuten? Wofür haben wir bezahlt? Dass wir hier auf dem Flughafen herumhängen?« Andere schlossen sich an.
     
    »Ich bitte Sie noch um ein wenig Geduld, meine sehr verehrten Reisenden. Sobald sich vierzig von Ihnen eingefunden haben, geht es sofort los!«, antwortete Martin.
    Er begrüßte weitere Neuankömmlinge, navigierte sie zu Toiletten oder Wechselstuben, verteilte Halbliterflaschen mit Mineralwasser und beschwichtigte die größten Unruhestifter. Auf den Bänken gab es bereits keine Sitzplätze mehr.
    Minuten des Wartens verronnen, bald war eine erste Stunde um. Das war der größte Trost, an den Martin während der gesamten Reise dachte. Die Zeit bleibt nicht stehen. Er zählte gerade den vierzigsten Passagier ab und nahm sich nunmehr der nächsten, nicht gerade leichten Aufgabe an:
    »Unweit von hier erwartet Sie der Autobus.«
    Die Halle füllte sich mit höhnischem Applaus.
    »Hurra, endlich Urlaub! Let’s go! Gehen wir!«
    »Wie weit ist es? Wir wollen nicht zu Fuß gehen!«, brüllte das Ungetüm Peggy.
    »Es ist ganz nah. Wir sind in drei Minuten dort.«
    »Wer trägt mein Gepäck?«
    »Ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit, das hier ist ganz wichtig: Für seine Koffer ist jeder selbst verantwortlich. Vergessen Sie deshalb nichts. Ein jeder nimmt seine Taschen! Wir bewegen uns jetzt gemeinsam zum Autobus. Wiederholen wir …«
    Er blieb ruhig, weil er ganz genau wusste, dass es immer so ablief: Er würde ganz langsam sprechen, sich deutlich artikulieren und unendlich oft mit stoischer Ruhe jeden Satz wiederholen – ein Sisyphos der Tourismusindustrie. Wie der mythologische Held gab auch er nicht auf und zum hundertsten, wenn nicht zum tausendsten Mal fügte er sich in die Erfüllung seiner Aufgaben. Er ging los, über seinem Kopf hielt er ein buntes Signalfähnchen, und die Gruppe in seinem Rücken setzte sich langsam in Bewegung. Für die hundert Meter zum Parkplatz brauchten sie eine Ewigkeit.
     
    Sie trugen breite Trainingshosen und durchgeschwitzte T-Shirts. Für die Reise hatten sie große, weiße Sportschuhe mit einer groben Sohle an oder leichte Sommerschlüpfer. Den
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