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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn
Autoren: J Tan
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Brüdern, mit derartigen Äußerungen zurückzuhalten. Schon immer war er der hitzköpfigste unter ihnen gewesen, und das ließ er auch jetzt wieder jeden um sich herum spüren.
    Graf Gerhard I. hob seinen dürren Arm und sprach in herrischem Ton: »Schweig, Sohn! Nicht einmal in meiner letzten Stunde kannst du dich edel und folgsam verhalten, wie es einem Grafensohn würdig wäre. Ich habe diese Art der Verteilung meines Erbes mit Absicht gewählt, damit ihr daran erinnert werdet, gerecht untereinander zu sein. Führt keinen Krieg gegeneinander, ansonsten zerbricht das Land. Vergesst niemals, dass ihr Brüder seid!« Nachdem sein letztes Wort verklungen war, sackte der Körper des Grafen noch tiefer in sich zusammen. Seine Kräfte näherten sich mehr und mehr ihrem Ende.
    »Vater …!«, riefen Heinrich I. und Adolf VI. erschrocken fast wie aus einem Mund und eilten an seine Seite. Einzig ihr Bruder, der nicht sehen konnte, wie schlecht es um seinen Vater stand, und den es auch am wenigsten scherte, saß still auf seinem Sessel.
    »Sollen wir vielleicht nach dem Heiler schicken lassen?«, fragte Hedwig besorgt und griff nach der eiskalten Hand des Alten.
    »Nein, ich will keinen Heiler mehr. Ich hatte ein gutes Leben, und meine Zeit ist gekommen. Schon bald werde ich meinen beiden Ehefrauen, meinen Geschwistern und meinen Kindern ins Himmelreich nachfolgen. Ich will zufrieden damit sein, da ich euch noch ein letztes Mal habe sehen dürfen. Und nun geht, meine Kinder. Trauert nicht um mich, wenn ich sterbe. Sucht Trost im Gebet, und vertraut auf Gott.«
    Alle vier taten, was der Vater von ihnen verlangte, und verließen das edle Schlafgemach, nachdem sie dem Grafen für immer Lebewohl gesagt hatten.
    Als Gerhard I. wieder allein war, blickte er abermals eine ganze Weile ins Feuer. Die Stille, die er dieser Tage so sehr liebte, war zurückgekehrt. Nur das Knacken und Zischen des trockenen Kaminholzes war zu vernehmen. Dann plötzlich regten sich seine Finger. Spinnenartig krabbelten sie an ihm entlang und holten etwas unter seinem wärmenden Pelz hervor, das tief darunter verborgen lag.
    Es war der große goldene Fürspann aus seinem Traum. Schweren Herzens nahm er ihn in beide Hände und fuhr mit den Daumen über den langen Dorn und das verzierte Kleeblattmuster. Die roten, blauen und grünen Edelsteine glänzten gülden im Schein des Feuers. Dieses Meisterstück der Goldschmiedekunst war ihm das Wertvollste unter all seinem Geschmeide. Heute hatte er sich eigentlich davon trennen wollen, indem er das Erbstück seinem ältesten Sohn vermachte, so wie es auch sein Vater vor vielen Jahren getan hatte. Für ebendiesen Moment hatte er die goldene Mantelspange bereits den ganzen Tag an seinem Körper getragen. Doch es war alles anders gekommen.
    Sein Erstgeborener hatte zum unendlichen Bedauern des Vaters auch dieses Mal wieder gezeigt, dass er unwürdig war. Tiefe Traurigkeit erfasste den Grafen. Auch er war im Leben nicht ohne Fehl gewesen, doch hatte der nahende Tod ihn – im Gegensatz zu seinem Sohn – geläutert. Gott musste gewusst haben, dass das Wesen seines Erstgeborenen fehlerhaft war, weshalb er ihn mit Blindheit gestraft hatte. Aber selbst dieses harte Schicksal hatte seinem unbotmäßigen Sohn nicht dazu verholfen, endlich mit dem Herzen zu sehen.
    Der alternde Graf hob den Blick, und wie erwartet stand vor ihm sein treuer Diener Gottfried, der es wie kein Zweiter verstand, sich nahezu lautlos anzuschleichen.
    »Ihr habt ihm den Fürspann nicht gegeben, Herr?«, fragte der Grauhaarige mit einfühlsamer Stimme.
    »Nein, Gottfried. Ich habe es nicht getan. Mein Herz war dagegen.«
    »Dann war es auch richtig so.«
    »Nun denn … ich will es hoffen«, zweifelte der Graf müde.
    »Was soll nun damit geschehen?«, fragte der Diener und ruckte sein Kinn in Richtung der gräflichen Hände.
    Gerhard I. senkte den Blick auf den Fürspann und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Hmm … Ich denke, ich werde ihn meinem Vater zurückgeben.«
    Gottfried lächelte. »Das ist eine gute Idee, Herr.«
    Die Entscheidung war gefallen. Der Graf betrachtete das prunkvolle Stück ein letztes Mal, dann führte er die Spange an seine runzligen Lippen und übergab sie seinem Diener. »Nimm den Fürspann an dich, Gottfried, und reite, so schnell du kannst, nach Bornhöved. Dort, an der Wiese der Schlacht, stellst du dich zwischen den Königsbarg und das Fiendsmoor, schließt deine Augen und wirfst ihn, so weit du kannst. Dies
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