Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn
Autoren: J Tan
Vom Netzwerk:
wandte im entscheidenden Moment das Gesicht ab, sodass sein Mund lediglich ihre Wange streifte.
    Er hätte es wissen müssen – das tat sie nämlich häufig. Wo immer sie konnte, entzog sie sich ihm. Ernüchtert entließ er sie aus seiner Umarmung.
    »Ich wollte gerade Mutters Hochzeitskleid holen«, sagte Runa tonlos, den Blick zu Boden gerichtet. »Sie will es Margareta für ihre Vermählung borgen.«
    Einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen dem Ehepaar, jene Stille, die nur dann entstand, wenn Reue und Verletztheit aufeinandertrafen.
    »Geh nur«, sagte Walther schließlich mit einem ernsten Nicken und trat einen Schritt zurück. »Wir sehen uns dann heute Abend beim Mahl.«
    »Ja, beim Mahl …«, murmelte Runa und lief an ihm vorbei, ohne aufzusehen. Nur wenig später drückte sie die Tür der elterlichen Kammer hinter sich zu und setzte sich gedankenversunken auf die Truhe ihrer Mutter. Beinahe fühlte sie sich befreit. Hier konnte sie Walther zumindest kurzzeitig entkommen. Seine stete Freundlichkeit machte es für Runa bloß noch schwerer. Fast wünschte sie, er würde endlich aufhören, sie zu lieben, damit ihr Gewissen sie nicht länger plagte. Dabei verdiente ihr Gemahl wahrlich Dankbarkeit und nicht etwa Runas Verdruss. Sie schämte sich für ihr Verhalten und für ihre Gedanken und fühlte sich ihm gegenüber schuldig, doch sie konnte nicht anders. Es war ihr in den sechs Jahren nach ihrer Hochzeit einfach nicht gelungen, Walther lieben zu lernen. Obwohl sie es sich so sehr gewünscht und er es nicht minder verdient hatte, war die Liebe ausgeblieben. Sie wusste, dass er das spürte. Es war in seinen Augen zu lesen, immer dann, wenn sie ihn abwies.
    Unendlich weit weg schien die Zeit, da es noch Hoffnung für sie gegeben hatte. Runa erinnerte sich genau an den Tag ihrer Hochzeit – sah die Ereignisse jenes Augusttages wieder vor sich: Walther hatte ihr vor allen Gästen ein selbst erdachtes Lied gesungen. Geradezu wundervoll war die Dichtung gewesen und so wohlklingend seine Stimme. In diesem Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, ihn eines Tages lieben zu können. In der Hoffnung, die Gefühle für ihren Gemahl würden sich schon irgendwann von alleine einstellen, hatte sie der Zukunft frohgemut entgegengesehen, überzeugt, seine unsterbliche Liebe würde für sie beide ausreichen. Doch das war ein Irrtum gewesen, ein schrecklicher Irrtum.
    Manches Mal fragte Runa sich, was sie wohl mehr gefangen hielt – die Ehe, die sie nicht wollte, oder die heimliche Liebe, die nicht sein durfte? Es war eine Schmach, es sich einzugestehen, doch damals wie heute gehörte ihr Herz einem anderen Mann.
    Obwohl sie in den vergangenen sechs Jahren kein einziges Wort mit Johann Schinkel hatte wechseln können, lag sie doch jede einzelne Nacht in Gedanken bei ihm. Wie häufig hatte sie sich schon gefragt, ob auch er gerade an sie dachte. Erinnerte sich Johann noch an die junge Begine, die sie einst gewesen war, oder hatte er sie bereits vergessen? Womöglich würde sie es niemals erfahren, denn was für einen Grund konnte es geben, der es einer Frau erlaubte, eine intime Unterredung mit dem Ratsnotar von Hamburg zu führen? Sie kannte die Antwort – keinen!
    Müde von ihren trüben Gedanken erhob sie sich von der mütterlichen Truhe und öffnete diese. Einen Moment starrte sie reglos auf die ordentlich gefalteten Berge von roter, grüner und blauer Seide, dann straffte sie entschlossen den Rücken und atmete tief ein, um nicht weiter ins Grübeln zu verfallen. Sie wollte die schmerzhaften Gedanken an ihre verloren gegangene Liebe nicht zulassen, und so griff sie zielsicher nach dem Hochzeitskleid ihrer Mutter. Mit beiden Händen hob sie es vor sich in die Höhe. Es wog schwer in ihren Armen.
    Der Anblick des Kleides zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Das schimmernde Tuch war über und über von Gold- und Silberfäden durchzogen, und der Ausschnitt und die Ärmel wurden von kunstvollen Ziernähten gesäumt. Es war von den Jahren in der Truhe zwar zerknittert, doch ansonsten schien es makellos.
    In Runas Gedanken blitzte das Bild ihrer Mutter auf, wie sie dieses Kleid getragen hatte. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie schön ihre Mutter darin ausgesehen hatte. Anmutig und vor allem glücklich. Wie gerne würde sie das Gleiche von sich behaupten. Doch ihr Hochzeitstag war kein Tag des Glücks gewesen. Wieder schweiften ihre Gedanken ab, ohne dass sie es wollte oder etwas dagegen tun konnte.
    Runa hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher