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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck
Autoren: Lisa See
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namens Li Zhi-ge«, sage ich.
    Das Lächeln verschwindet aus dem Gesicht der Frau und verwandelt sich in einen finsteren Blick. »Zu spät. Die Besprechung ist fast vorbei.«
    Ich sehe sie verblüfft an.
    »Ich lasse dich aber nicht da rein«, blafft sie und deutet verärgert auf eine hohe Doppeltür.
    »Heißt das, er ist da drinnen? Jetzt?«
    »Natürlich ist er da drinnen.«
    Meine Mutter würde es Schicksal nennen, dass ich meinen Vater so schnell gefunden habe, doch vielleicht ist es nur ein glücklicher Zufall. Was es auch sei, ich bin froh darüber, auch wenn es nur blindes Glück ist. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum die Frau vom Empfang mich nicht hineinlassen will.
    »Ich muss ihn sehen«, bitte ich sie.
    In diesem Moment gehen die Türen auf, und eine Gruppe Menschen strömt heraus.
    »Da ist er«, sagt die Empfangsdame verächtlich.
    Sie deutet auf einen großen Mann mit einer Drahtgestellbrille. Seine Haare sind ziemlich lang und fallen ihm locker über die Stirn. Er hat auf jeden Fall das richtige Alter – etwa Mitte vierzig –, und er sieht auffallend gut aus. Er trägt einen Mao-Anzug, aber seiner unterscheidet sich von den anderen, die ich auf der Straße gesehen habe. Seiner ist elegant und gut geschnitten, der Stoff sieht fester aus. Mein Vater muss sehr berühmt und mächtig sein, denn die anderen folgen ihm dichtauf und drängen ihn quasi zur Straße hinaus.
    Als sie das Gebäude verlassen, laufe ich ihnen rasch hinterher. Sobald sie auf dem Gehsteig sind, verlieren sich die anderen und vermischen sich mit dem Strom der Fußgänger. Z. G. bleibt einen Augenblick stehen und blickt zwischen den Häusern hindurch nach oben auf ein Stück weißen Himmel. Dann seufzt er, schüttelt die Hände, als wollte er eine Last abschütteln, und geht los. Ich folge ihm, immer noch mit dem schweren Koffer. Was würde wohl passieren, wenn ich zu ihm ginge und ihm eröffnete, dass ich seine Tochter bin? Ich kenne ihn nicht, dennoch spüre ich, dass jetzt gerade kein guter Moment ist. Ganz abgesehen davon habe ich viel zu große Angst. Irgendwann bleibt er an einer Kreuzung stehen, und ich stelle mich neben ihn. Er muss mich doch bemerken, so anders, wie ich aussehe – immerhin bin ich ja allen anderen auch aufgefallen –, aber er wirkt völlig in Gedanken versunken. Ich sollte etwas sagen. Hallo, du bist mein Vater . Es geht nicht. Er streift mich mit einem kurzen Blick, nimmt aber immer noch nichts wahr und überquert dann die Straße.
    Er biegt in eine ruhigere Straße ein. Bürogebäude weichen Wohnungen und kleinen Läden. Er geht ein paar Straßen weiter, dann biegt er in einen Fußweg ein, der auf beiden Seiten gesäumt ist von hübschen zwei- und dreistöckigen Häusern im westlichen Stil. Ich bleibe an der Ecke stehen, um zu beobachten, wo er hinwill. An den ersten drei Häusern geht er vorbei, dann öffnet er ein Tor in einem niedrigen Lattenzaun, betritt einen Garten, steigt die Stufen zur Veranda hinauf und verschwindet durch den Eingang. Ich gehe ein paar Schritte weiter. In den Gärten sehe ich Rasenflächen, blühende Cymbidien, Kletterwein. An den Veranden lehnen Fahrräder, Wäsche hängt an Stangen, die aus den Fenstern herausragen. Die Häuser selbst sind hübsch – mit Ziegeldächern, nett bemalten Fassaden und schmiedeeisernem Gitterwerk mit Art-déco-Ornamenten vor den Fenstern, als Durchblick für die Türen und als Dekoration an den Dachvorsprüngen und um die Briefschlitze.
    So haben Joe und meine Dozenten Rotchina nicht beschrieben. Ich habe kommunistische Zweckbauten erwartet oder sogar nur ein Wohn-Schlaf-Atelier. Doch mein Vater wohnt in einem eleganten Art-déco-Haus mit einem hübschen Garten. Was sagt das wohl über ihn aus?
    Ich hole tief Luft, steige die Stufen hinauf und drücke auf die Klingel.

J OY
    Zwei länger werdende Schatten
    E ine junge Frau öffnet die Tür. Sie trägt eine weite schwarze Hose und eine leichte blaue Tunika mit geflochtenen Knebelverschlüssen am Hals, quer über der Brust und unter dem Arm.
    »Ja bitte?«, sagt sie.
    Ist sie Z. G.s Tochter? Meine Halbschwester?
    »Ich möchte zu Li Zhi-ge.«
    »Worum geht es?« Ihre melodiöse Stimme klingt plötzlich irritiert, vielleicht ängstlich.
    »Ich bin von weit her gekommen.« Ich hebe meinen Koffer etwas an. Abgesehen davon muss sie doch sehen, dass ich nicht aus der Gegend stamme. »Es geht um eine Privatangelegenheit, und es ist sehr wichtig, dass ich mit ihm spreche.«
    Das Mädchen tritt zur
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