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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck
Autoren: Lisa See
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nenne. Bambus wächst in den Gärten, auf den Veranden stehen Blumentöpfe mit Miniaturkumquatbäumen, und auf dem Boden liegen Holzbretter mit Reisresten für die Vögel. Nun sehe ich alles mit anderen Augen. Dafür genügten neun Monate im College – und die Ereignisse des heutigen Abends. In meinem ersten Studienjahr an der Universität von Chicago lernte ich viel und unternahm viel. Ich lernte Joe kennen und trat der Chinese Students Democratic Christian Association bei – dem Chinesischen Christlich-Demokratischen Studentenverband. Ich lernte alles über die Volksrepublik China und darüber, was der Vorsitzende Mao für das Land tut, und das alles läuft sämtlichen Vorstellungen meiner Familie zuwider. Was tat ich also, als ich im Juni nach Hause kam? Ich kritisierte meinen Vater und warf ihm vor, dass er immer noch den Eindruck erwecke, er komme »frisch vom Schiff«, und dass er in seinem Café so fette Gerichte koche und sich immer so dämliche Fernsehserien anschaue.
    Diese Erinnerungen lösen einen Dialog in meinem Kopf aus, der seit seinem Tod in mir abläuft. Warum habe ich nicht bemerkt, was meine Eltern durchmachten? Ich wusste nicht, dass mein Vater illegal als Papiersohn in dieses Land gekommen war. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich meinen Dad niemals gebeten, dem FBI gegenüber zu gestehen – als hätte er nichts zu verbergen. Meine Mutter macht Tante May für das Geschehene verantwortlich, aber sie hat unrecht. Sogar Tante May glaubt, es war ihre Schuld. »Als der FBI -Agent nach Chinatown kam«, hatte sie mir erst vor ein paar Stunden auf der Veranda gestanden, »habe ich mit ihm über Sam gesprochen.« Aber Agent Sanders war der rechtliche Status meines Dads ziemlich egal, denn als Allererstes fragte er nach mir.
    Die Schlinge aus Schuldgefühlen und Kummer zieht sich immer enger zusammen. Woher hätte ich wissen sollen, dass die Gruppe, der ich beigetreten war, für das FBI als Tarnung für kommunistische Umtriebe galt? Wir demonstrierten vor Läden, in denen keine Schwarzen arbeiten oder Mahlzeiten einnehmen durften. Wir redeten darüber, dass die Vereinigten Staaten während des Krieges amerikanische Bürger japanischer Abstammung interniert hatten. Wieso machte mich das zu einer Kommunistin? Doch in den Augen des FBI tat es das, und deshalb versprach dieser schreckliche Agent meinem Dad eine Amnestie, wenn er jeden verriet, den er für einen Kommunisten oder einen Sympathisanten hielt. Wäre ich diesem Studentenverband nicht beigetreten, so hätte das FBI nichts in der Hand gehabt, um meinen Vater zu drängen, Namen zu nennen – insbesondere meinen. Mein Dad hätte mich nie verraten, und so blieb ihm keine andere Wahl. Solange ich lebe, werde ich nie vergessen, wie meine Mutter die Beine meines Vaters umklammerte in dem vergeblichen Versuch, das Seil um seinen Hals zu entlasten, und ich werde mir selbst nie meine Rolle bei seinem Selbstmord verzeihen.

T EIL EINS Der Tiger springt

J OY
    Life Savers
    I ch biege in den Broadway ein, dann in den Sunset Boulevard. So komme ich an den Orten vorbei, die ich in Erinnerung behalten möchte. Die mexikanische Touristenattraktion in der Olvera Street ist geschlossen, aber die fröhlich-bunten Lichterketten werfen einen goldenen Schein auf die geschlossenen Souvenirstände. Rechts von mir liegt die Plaza, der Geburtsort der Stadt, mit dem schmiedeeisernen Musikpavillon. Gleich dahinter geht es in die Sanchez Alley. Dort wohnte meine Familie im ersten Stock des Garnier Building, als ich klein war, und mein Herz füllt sich mit Erinnerungen an meine Großmutter, wie sie mit mir auf der Plaza spielte, an meine Tante, die mir mexikanische Lutscher in der Olvera Street kaufte, an meine Mutter, die immer mit mir hier hindurchging, wenn sie mich nach Chinatown in die Schule brachte oder dort abholte. Das waren glückliche Jahre, und dennoch steckten sie so voller Geheimnisse, dass ich mich fragen muss, was in meinem Leben überhaupt echt war.
    Die Palmen werfen perfekte Schatten auf die Fassade der Union Station vor mir. Der Uhrturm zeigt 2.47. Ich war gerade einmal ein Jahr alt, als der Bahnhof eröffnet wurde, daher war auch er ein fester Bestandteil in meinem Leben. Um diese Zeit fahren keine Autos oder Straßenbahnen, deshalb warte ich nicht, bis die Ampel umschaltet, sondern laufe einfach schnell über die Alameda Street. Ein einsames Taxi steht vor dem Bahnhof am Randstein. Drinnen im riesigen Wartesaal herrscht gähnende Leere, und meine
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