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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck
Autoren: Lisa See
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vorbei. Tausende Männer, wie es mir vorkommt – mit nacktem Oberkörper und leichten Baumwollhosen, die bis zu den Knien hochgerollt sind –, schleppen Baumwollbündel, mit Obst und Gemüse gefüllte Körbe und riesige Kisten zu den Booten hin oder an Land. Es ist ein einziges Kommen und Gehen.
    Ich werfe einen Blick auf die Karte, um mich zu orientieren, nehme den Koffer wieder auf, bahne mir einen Weg durch die Menschenmenge zum Randstein und warte, dass die Fahrräder anhalten, um mich über die Straße zu lassen. Sie halten aber nicht an. Und es gibt keine Ampel. Unaufhörlich werde ich von dem unendlichen Strom der Fußgänger gestoßen und geschoben. Ich beobachte, wie sich andere mitten zwischen die Fahrräder hineinwagen und mutig die Straße überqueren. Als das nächste Mal jemand vom Randstein auf die Straße tritt, hefte ich mich ihm an die Fersen, in der Hoffnung, hinter ihm sicher zu sein.
    Während ich die Nanking Road entlanggehe, stelle ich unwillkürlich Vergleiche zwischen Shanghai und Chinatown an, wo die meisten Leute aus Kanton in der Provinz Kwangtung im Süden Chinas stammten. Auch meine Familie kommt ursprünglich aus Kwangtung, aber meine Mutter und meine Tante wuchsen in Shanghai auf. Sie haben immer gesagt, in Shanghai sei das Essen süßer und die Kleidung modischer. Die Stadt sei aufregender – mit Clubs und Tanzlokalen, nächtlichen Spaziergängen am Bund entlang, und noch etwas: Es wurde gelacht. Als ich klein war, hörte ich meine Mutter nur selten lachen, aber sie erzählte immer davon, wie sie mit Tante May in ihrem Zimmer saß und kicherte, wie die beiden mit gut aussehenden jungen Männern Witze rissen und wie sie lachten, nur weil sie sich freuten, genau am richtigen Ort zu sein – im Paris Asiens –, und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt, bevor die Japaner einmarschierten und meine Großmutter, Mutter und Tante fliehen mussten, um ihr Leben zu retten.
    Was ich nun vor Augen habe, ist sicherlich nicht das Shanghai, von dem mir meine Mutter und meine Tante erzählten. Ich sehe keine schicken Frauen auf den Straßen, die in den Schaufenstern nach der neuesten Mode aus Paris oder Rom Ausschau halten. Ich sehe keine Ausländer, die sich benehmen, als gehörte alles ihnen. Überall sind nur Chinesen. Sie haben es alle eilig, und modisch ist nichts an ihnen. Die Frauen tragen Baumwollhosen und kurzärmelige Baumwollblusen oder einfache blaue Anzüge. Ein Stück weg vom Fluss sind die Männer besser gekleidet als die Hafenarbeiter. Sie tragen graue Anzüge – die mein Vater abschätzig als Mao-Anzüge bezeichnete. Niemand sieht zu dünn oder zu dick aus. Niemand sieht zu reich aus, und ich sehe keinen der Bettler oder Rikschafahrer, über die sich meine Mutter und Tante immer beklagten.
    Es gibt nur ein Problem. Ich finde den Künstlerverband nicht. Shanghai besteht aus einem Gitterwerk von Straßen, und ich bin bald völlig verwirrt. Ich biege in Seitenwege und kleine Sträßchen ein. Ich lande in Höfen und Sackgassen. Ich frage nach dem Weg, aber die Leute drängen an mir vorbei oder glotzen mich an, weil ich hier fremd bin. Ich glaube, sie haben Angst, mit jemandem zu sprechen, der so fehl am Platz wirkt. Ich betrete ein paar Läden, um Hilfe zu bekommen, aber niemand hat jemals vom Künstlerverband gehört. Als ich ihnen meine Wegskizze zeige, schütteln sie den Kopf und schieben mich unfreundlich zur Tür hinaus.
    Nachdem ich, wie es mir vorkommt, stundenlang abgewiesen, bewusst ignoriert oder von den vielen Menschen herumgeschubst wurde, stelle ich fest, dass ich mich völlig verlaufen habe. Außerdem habe ich richtigen Hunger, und mir ist schwummrig von der Hitze. Langsam bekomme ich Angst. Richtig Angst, denn ich bin in einer mir fremden Stadt, eine halbe Welt entfernt von allen, die mich kennen, und die Leute starren mich an, weil ich in meinem blöden getupften Kleid und den weißen Sandalen so fremdartig aussehe. Was mache ich hier?
    Ich muss mich zusammenreißen. Unbedingt. Denk nach! Ich werde ein Hotel brauchen. Ich muss zum Bund zurückkehren und noch einmal von vorne anfangen. Aber zuerst brauche ich etwas zu essen und zu trinken.
    Ich finde zurück zur Nanking Road, und bald komme ich zu einem riesigen Park, in dem ich einige Imbisswagen entdecke. Ich kaufe mir einen pikanten Kuchen, der mit Schweinehack und klein geschnittenem Blattgemüse gefüllt und in Wachspapier gewickelt ist. An einem anderen Wagen hole ich mir einen Tee in einer dicken Keramiktasse und
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