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Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Titel: Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Autoren: Mona Vara
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Verständnislosigkeit, Fassungslosigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, das soeben noch völlig ausdruckslos gewesen war.
    Und dann war die Fremde da. Sie rannte direkt auf Gabriella zu, und diese war nicht fähig, auch nur einen Schritt zu machen. Es war, als hätte die Berührung des Fremden ihren ganzen Körper verändert.
    Die blutbefleckte Fremde nahm den Grauen nicht wahr. Sie glitt durch ihn hindurch. Gabriella sah den Triumph in den Augen ihrer Verfolgerin, und schon streckte diese die Hände nach ihr aus, die Finger zu Krallen gekrümmt. Hass und Mordlust trafen Gabriella wie ein tödlicher Schlag.
    Da stieß die Hand des Grauen vor und packte den Arm der Fremden. Die Frau wurde mitten im Sprung zurückgerissen. Die Maske des Hasses verwandelte sich in eine Maske des Grauens. Sie konnte sich nicht bewegen, wurde vom Griff des Mannes emporgehoben, wie eine Puppe, nur die Zehenspitzen berührten noch den Boden. Ihr Mund war zu einem Schrei geöffnet, aber man hörte keinen Laut.
    Der Graue beachtete die Frau nicht, sein Blick hielt den von Gabriella fest, die sich ebenfalls nicht lösen konnte.
    Sie wusste nicht, wie lange sie so gestanden hatte, und erst die Stimme ihrer Mutter riss Gabriella aus ihrem Bann. Leben kam in sie, ihr Körper gehorchte ihr wieder. Sie wirbelte herum und lief weiter, die Brücke hinab. An der nächsten Ecke blieb sie jedoch stehen, um noch einmal zurückzuschauen.
    Der Graue stand immer noch reglos dort. Seine Augen waren geweitet, er wirkte erschrocken. Sein Opfer hing wie eine Marionette in seinem Griff.
    Gabriella hörte wieder den Ruf ihrer Mutter. Sie sah, wie der Graue den Blick auf Camilla richtete, die an ihm vorbeirannte, ohne ihn zu sehen. Weshalb bemerkte niemand etwas? War die Frau in dem Moment, als er sie berührte, ebenfalls aus dem Blickfeld der anderen Menschen verschwunden?
    Und dann geschah etwas, das sie in ihren Träumen zu fürchten gelernt hatte. Es war, als würde sich die Erde unter dem Grauen und der Fremden auftun und sie verschlingen. Eben waren sie noch da. Und im nächsten Moment war die Brücke leer. Er hatte die Fremde mit sich genommen.
    Angst erfasste Gabriella, schüttelte ihren mageren Kinderkörper. Erinnerungen an ein früheres Erlebnis stiegen in ihr hoch. Der Graue – ein anderer als heute – hatte damals einen Mann mitgenommen, und sie hatten sich beide aufgelöst. Ihre Mutter hatte ängstlich darauf reagiert, als sie es ihr erzählte, ihr dann jedoch eingeredet, dass es ein Albtraum gewesen sei. Und kurz darauf waren sie aus der Stadt, in der sie damals lebten, fortgezogen, hierher nach Venedig.
    Dann war auch das hier ein Albtraum? Schlief sie vielleicht? Sie blinzelte krampfhaft.
    Eine Hand packte Gabriella. Sie schrie auf, aber es war nur ihre Mutter. Camilla kniete vor ihr nieder, presste sie an sich, murmelte Unverständliches, dann sprang sie auf und riss Gabriella mit sich. Sie nahm sie auf den Arm, als wäre sie noch ein kleines Kind, stöhnte unter dem Gewicht, weigerte sich jedoch, ihre Tochter abzusetzen.
    Sie eilte mit Gabriella auf dem Arm weiter, man merkte ihren Schritten die Last an, aber sie hätte ihr Kind nicht mehr abgesetzt, solange es nicht in Sicherheit war. Gabriella spürte die Angst ihrer Mutter wie einen kalten Hauch, der auch sie frösteln ließ. Sie schlang die Arme um ihren Hals und blickte zurück, bis sie in die nächste Straße einbogen.
    »Die Frau«, flüsterte sie, »sie ist mit ihm verschwunden.«
    Ihre Mutter gab keine Antwort. Sie hastete weiter. Sie erreichten die Anlegestelle des Vaporetto am Canal Grande. Es wollte soeben ablegen, aber Camilla eilte darauf zu, und man ließ sie noch an Bord. Dann tuckerte das Schiff in die Mitte des Canalazzo, um nach einigen Minuten auf der anderen Seite anzulegen. Von hier aus waren es nur wenige Minuten bis zu ihrem Haus. Camilla ließ Gabriella zu Boden, packte sie jedoch so fest am Handgelenk, dass es schmerzte, und zog sie, um sich schauend, weiter. Sie war trotz der Anstrengung blass, rote Flecken glühten auf ihren Wangen, die Augen waren groß und voller Angst.
    Sie eilten die Calle entlang und erreichten den Campo S. Barnaba. Camilla Brabante drückte sich, ihr Kind mit sich zerrend, die Hausmauern entlang, wich Kellnern aus, die mit der lässigen Gebärde des Einheimischen einigen Touristen Kaffee und Croissants servierten, und erreichte dann die Brücke, die sie über den Rio di S. Barnaba brachte. In diesem Viertel hatten früher die verarmten
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