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Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Titel: Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Autoren: Mona Vara
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war nicht gefährlich, auch wenn ihre Mutter Angst vor Männern wie ihm hatte. Jedenfalls war er weit harmloser als ihre Verfolgerin, von der ganz spürbar Gefahr ausging.
    Sie hatte Männer wie ihn, in ihren grauen Hosen und Jacken, schon früher gesehen. Aber sie hatten sie entweder gar nicht beachtet oder nur stumm und ausdruckslos beobachtet. Wann immer sie jedoch ihrer Mutter davon erzählt hatte, war diese erschrocken gewesen. Dabei strömten diese Männer nichts aus. Nichts als … Gleichgültigkeit. Diese Männer waren überhaupt seltsam. Sie waren da und waren doch nicht da. Und so war es auch mit diesem. Sie konnte die Menschen hinter ihm nicht erkennen, aber er warf keinen Schatten, und gelegentlich streifte ein Arm oder Ellbogen durch ihn hindurch.
    Der Mann auf der Brücke stand wie ein Fels. Gabriella sah, dass die Menschen, nicht wie sonst üblich, einfach geradeaus weitergingen. Es war, als würde er wie ein unsichtbares Hindernis den Strom der Menschen teilen, als würden sie die Berührung meiden, ohne zu wissen, was diese Scheu auslöste. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise liefen die Menschen glatt durch die »Grauen«, wie Gabriella diese geheimnisvollen Männer nannte, hindurch.
    Als sie sich ihm näherte, bemerkte Gabriella, dass er sie nicht beachtete, er sah nur über sie hinweg auf ihre Verfolgerin, deren stoßweisen, keuchenden Atem sie jetzt hinter sich hörte und fast körperlich zu fühlen glaubte.
    ***
    Der Jäger spürte sie schon lange, bevor er sie sehen konnte. Und dann lief sie, ohne ihn wahrzunehmen, direkt auf ihn zu. Er war nicht verwundert. Für Menschen war er nicht einmal ein Schemen, sie gingen durch ihn hindurch wie durch Luft. Und tatsächlich existierte er für sie auch nicht: Er lebte in einer Zwischenwelt, zu denen sie keinen Zugang hatten. Sie konnten ihn berühren oder sogar mitten in ihm stehen bleiben, ohne ihn auch nur zu erahnen. Das galt auch für seine Beute – sie sah ihn erst, wenn es für sie zu spät war und er sie fasste.
    Sie verfolgte jemanden, ein Kind. Aber sie würde kein zweites Mal zuschlagen.
    Das Kind kam näher und zog seine Aufmerksamkeit an. Es steuerte genau auf ihn zu. Normalerweise störte ihn das nicht, aber bei diesem kleinen Mädchen machte er unwillkürlich einen Schritt zur Seite, als wollte er dieses junge Leben nicht mit seinem Schattendasein berühren. Im letzten Moment machte es ebenfalls einen Sprung seitwärts und lief geradewegs durch ihn hindurch.
    ***
    Gabriella rannte direkt auf den Grauen zu, weil die Menschenströme links und rechts von ihm kein Durchkommen ermöglichten. Er wich nicht aus, aber das taten sie nie. Kurz bevor sie ihn erreichte, sah sie rechts von ihm eine Lücke zwischen den Menschen und sprang hinüber, von einer seltsamen Scheu gepackt, ihn zu berühren. In diesem Moment machte auch er einen Schritt zur Seite. Gabriella konnte nicht mehr stehen bleiben. Sie lief mitten durch ihn hindurch …
    Für einen Moment war es ihr, als würde die Zeit stehen bleiben. Als stünde sie in einem dichten Nebel. Oder im Wasser. Sie war in ihm. Sie spürte ihn, eine starke, beängstigende Präsenz. Gefühllosigkeit. Und das im wahrsten Sinne. Nicht in Form von Härte, sondern als Fehlen jeglichen Gefühls. Nur Wille. Der kalte, zielgerichtete Wille zu jagen. In diesem Augenblick war ihr, als würde alles Leben aus ihr weichen und von ihm aufgesogen werden.
    Sie schrie auf – lautlos. Eine gewaltige Anstrengung, und dann war sie durch ihn hindurch.
    Gabriella blieb keuchend und benommen stehen, drehte sich – ungeachtet der Gefahr, die ihr folgte – um und sah ihn an.
    Der Graue schnellte ebenfalls herum und starrte sie an. Ihre Blicke trafen sich.
    Für einen Moment war dem Jäger, als bliebe die Zeit stehen. Die Menschen um ihn herum schienen in der Bewegung zu erstarren. Seine Beute hing mitten im Sprung in der Luft. Er kämpfte gegen seine Versteinerung, die ihm das Bewusstsein abschnürte, wollte die Hand ausstrecken, um die Beute zu packen, aber er konnte sich nicht rühren.
    Dann war das Kind durch ihn hindurch.
    Er kämpfte sich aus seiner Lähmung, wandte sich um und erschrak bis ins Mark. Das Kind war stehen geblieben, keine vier Schritte von ihm entfernt, und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das Kind … sah … ihn an … Sein Herz erstarrte zu Eis.
    Gabriella wusste, dass sie davonlaufen sollte, aber sie konnte nicht. Sie stand einfach nur da und starrte den Grauen an. Und er blickte zurück.
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