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Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Titel: Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Autoren: Mona Vara
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vorbei.
    Gabriella geriet in den Sog und wurde mitgeschoben. Sie schrie nach ihrer Mutter, hörte auch sie rufen, sah sie auf der Brücke nach ihr Ausschau halten. Ihre Mutter winkte ihr zu, eilte ihr entgegen, Gabriella rannte zu ihr hinüber, aber da wurde die Bedrohung so übermächtig, dass Gabriella für Sekunden erstarrte. Nur mit Mühe drehte sie, mit weit aufgerissenen Augen, den Kopf.
    Da war eine Frau. Sie kam langsam auf sie zu, und die Menschen auf der Straße wichen ihr erschrocken aus, sodass sich eine Gasse zwischen ihr und Gabriella bildete. Sie war schmutzig – Gabriella sah grässliche rote Flecken auf ihrem Rock, ihrem T-Shirt, ihren Händen und sogar in ihrem Gesicht. Sie roch nach Abfall, nach Verwesung. Nach Blut und Tod. Aber das war es nicht, was Gabriella so sehr erschreckte, dass sie sich herumwarf und davonlief, weg von der Frau, auch weg von ihrer Mutter, die nach ihr schrie und versuchte, sie zu erreichen. Es war der Blick der Fremden: hasserfüllt und tödlich.
    Ihr eigenes Keuchen dröhnte in ihren Ohren, als sie sich durch die Menschen drängte. Sie kannte sich gut in Venedig aus. Sie und ihre Freunde streunten gerne durch die Stadt, um bei ihren – oftmals abenteuerlichen – Ausflügen, die unzähligen Straßen, Brücken und verborgenen Winkel zu erkunden.
    Die Fremde holte stetig auf. Sie war zwar weniger wendig als Gabriella, aber sie hatte längere Beine als eine Siebenjährige und stieß die Leute, sofern diese nicht ohnehin vor ihrem Anblick zurückschreckten, rücksichtslos zur Seite.
    Und dann wurde Gabriella der Weg von einem Kanal abgeschnitten. Sie überlegte nicht lange. Jetzt, zur Touristensaison, waren viele Gondeln unterwegs, und eine glitt in eben diesem Moment an ihr vorüber. Sie lief ans Ufer und stieß sich, ohne auch nur einen Moment langsamer zu werden oder zu zögern, vom Rand ab. Sie und ihre Freunde spielten dieses Spiel oft, auch wenn es streng verboten war und der elfjährige Enrico deshalb erst kürzlich beinahe eine Tracht Prügel eingesteckt hätte. Sie landete auf der Gondel, stolperte, rutschte, wich der wütenden Hand des Gondoliere aus, das teils erschrockene, teils empörte Falsett einer amerikanischen Touristin gellte in ihren Ohren, und dann war sie mit einem Satz, für den ihre Freunde sie bewundert hätten, schon wieder in der Luft und klammerte sich einen Herzschlag später an das Ufer auf der anderen Seite. Ihre Turnschuhe streiften das Wasser, sie zog die Beine an und kletterte hinauf, zerkratzte sich trotz der festen Jeans ihre Knie, verletzte sich die Finger, schlüpfte unter das eiserne Geländer hindurch und war auch schon auf der gegenüberliegenden Straße und lief weiter.
    Die Fremde hatte nicht, wie Gabriella hoffte, einen Umweg gemacht, sondern war ihr – ungeachtet des wütend gestikulierenden Gondoliere – nachgesprungen. Die Gondel schwankte jetzt bedenklich, und die Amerikanerin schrie nicht mehr, sondern kreischte in den höchsten Tönen. Gabriella konnte es ihr nachempfinden, und wäre nicht jeder Atemzug kostbar gewesen, hätte sie ebenfalls vor Entsetzen und Angst laut aufgeschrien. Sie musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass die Fremde weiter aufholte. Sie trieb ihren Hass vor sich her wie eine Giftwolke, die Gabriella den Atem nahm.
    Gabriella wand sich zwischen zwei Männern hindurch und sprintete auf die Gasse zu, die zur Brücke über den Canalazzo führte. Von dort war es ein relativ gerader Weg nach Hause. Vielleicht hatte ihre Mutter denselben Einfall und erwartete sie dort. Der Gedanke, einen Carabinieri anzusprechen und um Hilfe zu bitten, durchzuckte sie, aber dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter immer einen weiten Bogen um die Polizei machte und ihr verboten hatte, den Carabinieri gegenüber auch nur ein Wort über das zu verlieren, was nur sie sehen konnte und sonst niemand. Aber diese Frau hinter ihr war echt und kein grauer Schatten wie diese Männer, die ihrer Mutter immer solche Angst machten; auch die anderen konnten sie sehen, sonst würden sie bei ihrem Anblick nicht so erschrecken.
    Gabriella hetzte weiter. Endlich kam die Brücke in Sicht.
    Sie stutzte, als sie den Mann darauf erblickte. Er stand genau in der Mitte, als würde die Brücke ihm allein gehören, und blickte Gabriella mit unbewegtem Ausdruck entgegen. Sein Anblick nahm ihr kurzzeitig den Atem und kostete sie wertvolle Sekunden, in denen die Fremde weiter aufholte. Dann atmete sie tief ein und lief auf die Brücke. Dieser Mann
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