Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
innersten Ängste hervorbrachten, es mußte ihr gelingen, das Ungeheuer zu besiegen. Der Riesenschnabel hackte wieder auf sie ein. Pamina krümmte sich vor Entsetzen zusammen, um ihre Augen zu schützen. Sie mußte sich auch ohne den Dolch verteidigen können!
    Tamino? Wo war er? Weshalb war er verschwunden?
    Kämpfte auch er allein gegen einen furchterregenden Feind?
    Fieberhaft versuchte Pamina sich ihrer neuentdeckten Kräfte zu erinnern. Sie rollte blitzschnell aus der Reichweite des Schnabels, stand auf und rief mit der Stimme, die nach dem Sandsturm das Wasser beschworen hatte: »Licht! Feuer!«
    Vor ihren Augen explodierte das Licht wie gleißende Son-nenstrahlen. Pamina griff danach und schleuderte das Licht auf das Wesen, das sie jetzt in ihrer ganzen Scheußlichkeit sah: gespreizte Krallen, ein scharfer, gekrümmter Schnabel, von dem ihr Blut tropfte… Unter dem Aufprall des strahlen-den Feuerballs flammte das Ungeheuer wie eine Fackel auf, stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, stürzte in den Wü-
    stensand und verbrannte. Zurück blieb nur ein Haufen Asche, und Pamina stand allein in der
    Wüste.
    Vor Entsetzen überwältigt, aber auch erleichtert, sank sie zu Boden.
    Wie betäubt blieb sie liegen. Als sie sich nach langer Zeit beruhigt hatte, hob Pamina den Kopf und betastete ihre Wunden. Die Arme schmerzten und bluteten; ein Ärmel ihres Gewandes hing in Fetzen herunter. Ein tiefer, langer Riß zog sich über ihre Wange – fast hätte ihr das Scheusal ein Auge ausgehackt.
    Pamina dachte wieder daran, wie ihr Dolch immer wieder ins Leere gestoßen war. Wie konnte ein geister-haftes Wesen so sichtbare Spuren hinterlassen?
    Rasch stellte sie fest, daß keine der Wunden gefährlich war (sie wußte noch nicht, daß sie für den Rest ihres Lebens eine Narbe unter einem Auge behalten würde). Den zerfetzten Ärmel, der nur noch an ein paar Fäden hing, riß sie ab. Er war so schmutzig und blutverschmiert, daß sie ihn nicht einmal als Verband benutzen konnte. Sie wischte sich das Gesicht ab und wünschte sich nichts sehnlicher als eine Quelle, um ihre Wunden darin zu baden.
    Wo war Tamino? Kämpfte auch er einen mörderischen Kampf gegen die Gefahren, die im Land der Wandlungen lauerten? Kämpfte er allein, nachdem nicht die Priester, sondern der heimtückische Monostatos sie getrennt hatte? Wie sollten sie die Prüfung des Feuers bestehen, wenn man dem Abtrünnigen beider Welten, diesem Unhold, erlaubte, sich einzumischen? Oder gehörte das dazu?
    Sarastro hatte ihr versichert, der wollüstige Monostatos sei ihr nicht als Prüfung auferlegt, doch der Halbling erwies sich als echte Bedrohung. Pamina mußte sich ihm stellen, sich ihm verweigern und schließlich gegen ihn kämpfen…
    Während der letzten beiden Prüfungen war sie wenigstens nicht allein gewesen, und auch diesmal hatten die Priester sie zusammen mit Tamino ausgeschickt. Bei dieser Erinnerung mußte Pamina gegen Tränen der Enttäuschung kämpfen –
    noch vor kurzem hatte sie mit Tamino unter dem schützenden Busch gelegen – sie wußte jedoch nicht, wie lange das wirklich her war. Er hatte sie umarmt, und sie hatte ihm den Gürtel gelöst… Dann war der Sandsturm gekommen und mit ihm die wirklichen Prüfungen… Also sollten sie nicht die Erfüllung ihrer Liebe finden… noch nicht… Würde die Zeit je kommen? Pamina wußte nicht einmal, ob sie sich das wünschen sollte. Es hatte so viele Prüfungen, so viele Proben gegeben. Würden sie je ein Ende finden?
    »Pamina«, hörte sie eine sanfte, geliebte Stimme, »ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen, mein Liebling.«
    Sie hob die Augen, und vor ihr stand die Mutter… doch nicht in aller Herrlichkeit, dem Zorn und der schrecklichen Schönheit der Sternenkönigin. Es war die Mutter ihrer Kindheit – eigentlich eine kleine Frau – nicht annähernd so groß wie Pamina. Ein weiches, graues Gewand aus Seide hüllte sie ein wie eine Wolke. Die Sternenkönigin trug keinen Schmuck – nicht einmal das Band mit der silbernen Mondsichel, das in die Haare geflochten wurde… nicht einmal den funkelnden Stern am Hals. Silberne Fäden zogen sich durch das dunkle Haar, und Pamina sah im Gesicht ihrer Mutter Kummer und Falten – die ersten Anzeichen des Alters.
    Ihre Mutter berührte sanft die langen, blutenden Wunden am Arm und im Gesicht.
    »Mein armes, liebes Kind«, flüsterte sie und nahm Pamina in die Arme. »Was hat er dir angetan, dieser schreckliche, böse Mann? Warum hast du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher