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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef
Autoren: Andreas Pittler
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Außerdem seien Milch und Honig im Hause vorrätig. Na, das musste ja das Paradies sein, zumal es, wie es in der Werbung hieß, auch noch staubfrei war.
    Aber Albin Schwarz hatte harte Konkurrenz. Feistritz am Wechsel etwa, die „beliebte Sommerfrische in herrlicher Gebirgs- und Waldgegend mit schattigen Spaziergängen, Schloss und Wildpark“, oder Königstätten, die „angenehme Sommerfrische am Fuße des Tulbingerkogels“, die ein großes Schwimmbad, Wannenbäder, Arzt, Post, Telegraph und Fernsprecher zu bieten hatte, wie die Prospekte des Verschönerungsvereins Königstätten eindrucksvoll beweisen würden. Da war aber auch Mailberg, die „berühmte Weingegend“, in der man gleich in ein Weinbauernhaus samt Weinkeller in der Kellergasse einziehen könnte. Und wenn man dauerhaft urlauben wollte, dann gab es Baugründe „direkt im Wald, zehn Minuten von der Bahnstation Tullnerbach-Preßbaum“ zu erstehen, für wohlfeile zwei Kronen den Quadratmeter.
    Oder er verband beides, Körperpflege mit Sommerurlaub, und fuhr in einen Kurort. Seine Mutter war im Vorjahr in Bad Pyrawarth gewesen und schwärmte immer noch von den dortigen Radiumbädern. Sein Blick fiel auf die Annonce von Töplitz: Neues Kurhotel mit elektrischer Beleuchtung. Altberühmte radioaktive Schwefeltherme (58 Grad), empfohlen bei Gicht, Rheuma, Ischias. Trinkkuren, elektrische Massagen, Schlamm-, Kohlensäure- und Sonnenbäder. Das ganze Jahr geöffnet, modernster Komfort, herrliche Umgebung, täglich Militärmusik. Da musste man sich doch wie neugeboren fühlen, wenn man zu den Klängen des Radetzkymarschs durchgeknetet und anschließend im Morast versenkt wurde wie eine germanische Moorleiche. Immerhin konnte man seine Lieben durch das hoteleigene Telefon wissen lassen, dass man eben durch maßloses Trinken für immer von all seinen Leiden geheilt worden war.
    Oder Johannisbad im Riesengebirge, das, wie es hieß, „herrlichste Lage und reizendste Gebirgsszenerie“ ebenso aufzuweisen hatte wie eine eigene Kurkapelle, in der man sich dann wohl aufbahren lassen konnte, falls die radioaktive Thermalquelle trotz „guter Verpflegung und Unterkunft“ des Guten etwas zu viel gewesen war. Nein, da machte er schon lieber Urlaub im „Hotel Boulevard“ am Margaretengürtel mit seinem „modernsten Komfort samt Warmwasser, elektrischem Licht und Zentralheizung“. Der Vorteil dieses Hotels war, so wusste wohl fast jeder Mann in Wien, dass es einem auch für kürzeste Aufenthalte großzügig Quartier bot und dazu auch noch ganz wunderbar diskret war.
    Bronstein dämpfte die Zigarette aus. Die Kuckucksuhr an der Wand hatte eben zweimal gekrächzt. In einer halben Stunde sollte er im „Herrenhof“ sein, und daher war es wohl besser, wenn er sein Bier austrank und zahlte. Er trat hinaus in die frische Abendluft und hielt auf den Ring zu. Als er diesen überquert hatte, schlug er sich nach links in die Augustinerstraße, die ihn direkt zum Michaelerplatz führte. Von dort waren es nur noch wenige Meter zum „Herrenhof“, wo er, wie er feststellte, doch noch viel zu früh eintraf.
    Er setzte sich an Kischs Stammplatz, zündete sich eine weitere Zigarette an und wartete. Eigentlich schon faszinierend, dachte er bei sich. Da hatte ihn der Kisch zu Mittag noch aus Prag angerufen, und sieben Stunden später war er schon in Wien. Der arme Mozart hatte vor etwas mehr als hundert Jahren noch ganze drei Tage für diese Reise benötigt, doch mit der Eisenbahn schien es, als würden die Distanzen nachgerade täglich kleiner. Mit dem rasenden Fortschritt, der diese Zeit kennzeichnete, müsste es, so überlegte Bronstein weiter, in hundert Jahren möglich sein, die Strecke Prag – Wien in zwei Stunden zurückzulegen. Und in dieser Hinsicht waren der Menschheit wohl keine Grenzen gesetzt. Irgendwann würde man einander sagen: Du, ich bin in Prag und muss dir was zeigen. Warte, ich komm schnell rüber. Und einige Minuten später stand man sich Aug in Aug gegenüber.
    Eine kleine Weile später zählte Bronstein die Zigaretten im Aschenbecher. Aus ihrer Anzahl rechnete er die Zeit hoch, die er schon im Lokal saß. Dieses Ergebnis verglich er mit der Zeitangabe seiner Taschenuhr. Ja, das kam hin. Es war bald dreiviertel neun. Wo blieb Kisch? Er winkte den Zahlkellner zu sich: „Herr Alfred, Sie wissen doch eigentlich alles. Haben Sie eine Ahnung, wann der Zug aus Prag in Wien ankommt?“
    „Welcher? Der Elfdreißiger oder der Dreizehndreißiger?“
    Kisch hatte ihn
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