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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef
Autoren: Andreas Pittler
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Ende, in der menschlichen Zivilisation muss man diesem eben ein wenig nachhelfen. Und ich steige auf den Stuhl.
    Ich bin das oft genug durchgegangen. Ich muss nur kurz hochspringen und dabei gegen die Lehne des Sessels schlagen. Dieser kippt um, und mein Körper pendelt in der Luft. Der Tisch ist weit genug entfernt, ich werde also nicht in Versuchung kommen, im allerletzten Moment doch um eine Rettung zu ringen. Alles ist generalstabsmäßig – welche Ironie! – vorbereitet. Der letzte Akt kann beginnen, auf dass der Vorhang bald für immer falle.
    Merkwürdig. Wenigstens jetzt, ein paar Augenblicke vor dem unausweichlichen Tode, sollte mich die Angst überkommen. Doch ich empfinde nichts. Nein. Gar nichts. Da ist keine Furcht, keine Neugier, keine andere Sinnenregung. Ich sehe dem, was kommt, mit demselben Gleichmut entgegen, wie ich meine Morgentoilette zu verrichten pflege.
    Kein Zaudern jetzt. Kein ewiges Philosophieren. Jetzt ist die Stunde gekommen, sich von dieser unglücksbeladenen Existenz zu befreien. Ich lege mir die Schlinge um den Hals und ziehe sie zu. Schon ist meine Atemmöglichkeit ein wenig eingeschränkt, doch das hilft mir, nur noch klarer zu denken. Mein Blick fixiert mein Bett, das ganz gegen mein Wollen so jungfräulich geblieben ist. Wahrscheinlich werde ich im Augenblick des Sprungs instinktiv meine Augen schließen, doch das wäre gegen meinen Willen. Ich will sehenden Auges in die nächste Welt gehen. Auch das ist wohl eine Frage der Disziplin.
    Eigenartig. Ich hole tief Luft, so als gelte es, einen Tauchgang zu absolvieren. Wie widersinnig. Genug gedacht, genug getrödelt. Ich spanne meinen Körper, gehe leicht in die Knie, was den Strick um meinen Hals schon einmal spannt. Meine Arme nehmen ihre sprungtypische Ausgangsposition ein, und schon stoße ich mich ab. Für einen Moment befinde ich mich in der Luft, dann setzt die Schwerkraft ein, und es geht abwärts. Doch meine Beine geraten an ein Hindernis. Der Sessel! Es ist mir nicht gelungen, ihn umzuwerfen. Merkwürdig, eigentlich sollte das eine ganz leichte Übung sein, und doch zögere ich. Ich spüre einen unerträglichen Druck in meinem Kopf, ein wildes Zucken in meinen Schläfen. Dieses Pochen, dieses Pochen.

I.
Montag, 10. Februar 1913
    Stalin. So nennt sich jener Verdächtige, den zu überwachen wir beauftragt sind. Er ist vor einigen Tagen aus Galizien, wo er sich bei dem bekannten Umstürzler Uljanow, der unter dem Tarnnamen Lenin agiert, aufgehalten hatte, mit dem Zug nach Wien gekommen und hat in der Schönbrunner Schlossstraße Quartier genommen. Dort logiert ein Alexander Trojanowski, der, wie uns von der zuständigen Abteilung versichert wird, gleichfalls dem linken exilrussischen Netzwerk zuzurechnen ist. Die Überwa chung wurde am 5. dieses Monats angeordnet, da seitens des k. k. Kundschafterdienstes die Meldung überbracht wurde, genannter Stalin gehöre dem innersten Zirkel der russischen Umstürzler an, weshalb ihm äußerste Aufmerksamkeit zuteil werden solle.
    Nach fünf Tagen muss allerdings festgestellt werden, dass die Beschattung des Verdächtigen bislang keine Ergebnisse gezeitigt hat. Der Mann verlässt die Wohnung bis zum frühen Abend nicht, dann spaziert er den Wienfluss entlang in Richtung kaiserliches Schloss, um sich sodann wieder zu seiner Wohnung zu begeben. Außerhalb dieser hat er sich mit niemandem getroffen oder auch nur jemanden gesprochen. Es scheint, als bliebe der Mann völlig für sich.
    Die Beschreibung, die unten unterfertigte Dienststelle über den Mann erhalten hat, ist im Übrigen vollkommen korrekt. Der Verdächtige ist knapp einen Meter sechzig groß, hat auffallende Pockennarben und dunkelschwarzes Haupthaar, das ihm meist ungekämmt vom Kopfe steht. Als besonderes Kennzeichen ist der große Schnurrbart zu nennen, ebenso eine leichte Behinderung des linken Arms.
    Wie wir von unseren Konfidenten im russischen Milieu in Erfahrung bringen konnten, nennt sich der Verdächtige auch „Koba“, was mit seiner georgischen Herkunft zu tun haben dürfte. Angeblich handelt es sich dabei um einen Helden einer kaukasischen Sage, in dessen Fußstapfen der zu Beobachtende offensichtlich zu treten gewillt ist. Seinen wirklichen Namen wussten auch unsere Konfidenten nicht mit Gewissheit zu sagen, doch gibt es Hinweise darauf, dass besagter Stalin oder Koba mit dem ehemaligen Priesterschüler Josef Dschugaschwili identisch ist, der im Zarenreich wegen mehrerer Banküberfälle gesucht wird und
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