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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef
Autoren: Andreas Pittler
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der gesetzlich eingeräumten Mittagspause durch einen subalternen Mitarbeiter. In Stein oder Suben konnte es nicht langweiliger sein.
    Dafür freilich wurde der Vater niemals müde, auf die Sicherheit zu verweisen, die mit diesem Beschäftigungsverhältnis verbunden war. Der Vater hatte nämlich das Schicksal seines Vaters, also Bronsteins Großvaters, vor Augen, der als freiberuflicher Mediziner stets mehr am Hungertuch genagt hatte als viele seiner Patienten. Aber dem alten Nahum, der sich in Wien wohl nur deshalb hatte taufen lassen, um hier den Arztberuf überhaupt ausüben zu dürfen, haftete bis ans Ende seiner Tage seine Herkunft aus dem hintersten Winkel Galiziens an, sodass seine Kundschaft primär aus Leuten bestanden hatte, die sich eben nichts anderes leisten konnten. Und doch war Opa Nahum wohl mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen gestorben, denn letztlich hatte er es doch zu etwas gebracht. Die Badestube seines Vaters Mordechai war längst vergessen, und mit dem Sohn als kaiserlichem Beamten schien der Aufstieg der Familie nicht aufzuhalten.
    Doch dann kam er. David Bronstein. 175 Zentimeter groß, von kräftiger Statur. Besondere Kennzeichen: keine, wenn man von seinem Bart absah. Mit ihm ging es in familiärer Hinsicht augenscheinlich wieder bergab.
    Über sechs Jahre war er nun schon im Dienst der Wiener Polizei, und er hätte nicht behaupten können, jemals an etwas Großem beteiligt gewesen zu sein. Gut, der Fall Meier vielleicht, doch der lag auch schon fünf Jahre zurück und war letztlich kaum sonderlich spektakulär gewesen. Bronstein betrachtete weiter das Aktenblatt vor sich und dachte an den Ferdinand Meier zurück.
    Eigentlich war der Mann mit seiner Verteidigungsrede vor Gericht legendär geworden. Er hatte einen Zechkumpan erschlagen, um an dessen Barschaft zu kommen. Später rechtfertigte er sich dann mit dem nachgerade philosophischen Satz: „I hab des ned wollen. I hab nur das Geld wollen. Aber das Schicksal hat es anders wollen.“ Das war den Geschworenen seinerzeit des Wollens zu viel, und sie wollten Meier am Galgen sehen. Dazu hatte wohl auch seine, Bronsteins, Aussage beigetragen, denn immerhin war er es gewesen, der den Meier Ferdinand festgenommen hatte. Der Meier hatte seinen Mitzecher in eine Seitengasse gelockt und dort erschlagen. Dann war er mit dessen Geld in die Schluckhalle zurückgekehrt und hatte weitergesoffen. Und dabei von der Erbschaft geprahlt, die er gerade eben in den enteren Gründen gemacht habe. Das war dem Wirten verdächtig vorgekommen, und er hatte den Brotschani auf die Wachstube geschickt. Dort war an jenem Abend Bronstein gesessen und hatte darüber sinniert, ob er sich seinen Polizistenberuf nicht doch anders vorgestellt hatte. Als nun der Junge von den Vorfällen in der Schenke berichtete, da beeilte sich Bronstein, um endlich eine sinnvolle Amtshandlung vornehmen zu können. Schon auf dem Weg zum Wirtshaus stolperte er beinahe über die Leiche, die der Meier Ferdinand nicht einmal notdürftig versteckt hatte. Noch dazu waren die Initialen des Geldbeutels mit jenen des Opfers identisch, sodass der Hergang der Tat rasch rekonstruiert war. Meier fiel Bronstein, mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, einfach in die Arme und verlor das Bewusstsein. Als er am nächsten Morgen in der Zelle erwachte, da legte er sofort ein umfassendes Geständnis ab, dabei allerdings die Bitte vorbringend, man möge ihm einmal noch eine Flasche Schnaps spendieren.
    Der ihm zugeteilte Pflichtverteidiger stellte während des Prozesses den Antrag, Meier auf seinen Geisteszustand hin zu untersuchen, und das Ergebnis dieser Visitation hatte Bronstein immer noch nicht vergessen. Der Meier Ferdinand, so hatte der Amtsarzt damals festgehalten, sei zwar im Allgemeinen geistig minderwertig, asozial, idiotisch und generell blödsinnig, er habe aber sehr wohl Einsicht in das Verwerfliche seines Tuns. Der Richter hatte während des ärztlichen Vortrags mit fragender Miene gelauscht, um sich dann mit den Worten „Und des heißt …?“ vernehmen zu lassen. Worauf der Arzt replizierte: „Ein Trottel. Aber ein gefährlicher Trottel.“
    Jedenfalls war der Meier Ferdinand zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Anscheinend aber handelte es sich beim Meier Ferdinand doch nicht um einen vollkommenen Trottel, denn wenige Tage vor dem festgesetzten Hinrichtungstag gelang es ihm, einen Mithäftling mit einem steinernen Trinkkrug zu erschlagen, woraufhin ihm neuerlich der Prozess
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