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Tinnef

Tinnef

Titel: Tinnef
Autoren: Andreas Pittler
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bereits mehrfach inhaftiert war.
    Bronstein unterdrückte einen Fluch und warf die Feder in weitem Bogen über den Schreibtisch. Nicht nur, dass dieser Überwachungsauftrag überaus fade war, darüber auch noch einen Bericht verfassen zu müssen war die Krönung der ganzen Angelegenheit. Warum konnte man sich nicht auf eine Art Datenstammblatt verständigen, in dem man einfach nur das Wesentliche eintrug: Name, Tarnname(n), Zeitraum der Überwachung, Ergebnis? Es gab doch in der Monarchie für jeden Leibeswind ein eigenes Formular, warum musste man da ausgerechnet in solchen Dingen zum Karl May befähigt sein?
    Eigentlich hatte er sich den Polizeidienst ganz anders vorgestellt. Irgendwie aufregender, packender, verantwortungsvoller. Doch nun saß er seit sechs Jahren auf einem Kommissariat und die tägliche Routine zermürbte ihn. Ja, er ertappte sich bei der Frage, ob die Warnungen seines Vaters nicht doch ihre Richtigkeit gehabt hatten.
    Ja, sein Vater. Leopold Salomon Bronstein. Der erste Bronstein, der in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien zur Welt gekommen war. Und das noch dazu in überaus bewegten Tagen. März 1848. Obwohl dieses Datum nun schon beinahe 65 Jahre zurücklag, redete immer noch alle Welt davon. Die Deutschnationalen, weil sie in dieser Erhebung der Bürger den Willen zum Zusammenschluss aller Deutschen zu erkennen meinten, und die Sozialdemokraten, weil sie diese bürgerliche Revolution als Vorboten der Errichtung des Sozialismus werteten. Die eigentlichen „48er“ waren freilich schon lange tot, doch offenbar bot dieser Umstand nur noch mehr Spielraum für die unterschiedlichsten Interpretationen.
    Eine Revolution. Das war offensichtlich auch das Ziel dieses Stalin. Und Leute wie ihn gab es viele in der Hauptstadt der Doppelmonarchie. Bronstein hatte es als willkommene Abwechslung aufgefasst, als man ihn für diese Causa der politischen Polizei dienstzugeteilt hatte, doch nur allzu bald war er um die Feststellung nicht herumgekommen, dass diese Tätigkeit noch langweiliger war als jene, die er zuvor ausgeübt hatte. Die meisten dieser sogenannten Revolutionäre erwiesen sich als arme Schlucker, die den ganzen Tag über in einem Kaffeehaus bei einem einzigen kleinen Braunen saßen und darüber schwadronierten, wie die Welt aussehen würde, wenn sie erst einmal an der Macht wären. Bemerkenswert daran war bestenfalls der Umstand, dass sie sich untereinander mitunter heftiger bekriegten als den Staat, den sie doch eigentlich umstürzen wollten. Solange die Linke nicht mehr zuwege brachte als derartige Hinterhofrevoluzzer, konnte der Zar ruhig schlafen. Und der Kaiser sowieso.
    Der Kaiser! Der war auch 1848 auf den Thron gekommen. Unvorstellbar eigentlich, dass jemand so lange regieren konnte. Aber vielleicht war Franz Joseph I. genau deshalb zum allseits verehrten Landesvater geworden, dem sogar die Sozis ihre Achtung nicht versagten. Unwillkürlich fiel Bronstein ein Lied ein, das die Katholiken in ihren Messen immer sangen: Er, der nie begonnen, Er, der immer war. Das konnte man nun auch schon beinahe vom Kaiser sagen. Und sicherheitshalber schickte Bronstein einen ehrfürchtigen Blick auf das gerahmte Porträt des Monarchen, das direkt neben dem Eingang hing.
    Dann nahm er eine weitere Zigarette aus seinem Etui. „Egyptische Sorte“. Die rauchte er erst seit kurzem, da er sich eigentlich Zigaretten gar nicht wirklich leisten konnte. Doch das ewige Drehen eigenen Rauchwerks war ihm doch zu umständlich geworden, seit er mehr Nikotin als Obst konsumierte. Verzweifelt bemühte er sich darum, sich wieder auf seinen Bericht zu konzentrieren, allein, es gelang ihm nicht.
    Warum war ihm das eigentlich nicht von vornherein klar gewesen? Polizeiarbeit war zwangsläufig zu 99 Prozent der Zeit Routine. Selbst ein Sheriff im Wilden Westen hatte nicht täglich mit Schießereien und Morden zu tun, mochte das die Wildwestschau des Obersten Cody auch noch so oft behaupten. Und da hatte er ernsthaft geglaubt, in Wien würde es für einen Ordnungshüter eine abwechslungsreiche Tätigkeit geben?
    Natürlich, letztlich war das Beispiel des Vaters abschreckend gewesen. Der hatte nach dem Abschluss des Gymnasiums um Aufnahme in den Beamtenapparat Seiner Majestät ersucht und war schließlich als Staatsdiener im Finanzministerium in der Himmelpfortgasse gelandet. Dort malte er seit nunmehr beinahe einem halben Jahrhundert Akten ab, und die größtmögliche Aufregung in dieser Tätigkeit war die Überziehung
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