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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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er, ein Gurgeln
     und Schmatzen zu hören und es stank – er war wieder in der Kanalisation und dort war auch … DER TIGER.
    |40| Jonas riss die Augen auf. Über seinen nackten Zehen tanzte der Staub im Sonnenlicht. Es konnte nicht sein! Ein sprechender
     Tiger, der jetzt, jetzt im Moment irgendwo da unten war, unter den Straßen und Häusern in ihrer Siedlung. War es am Ende wirklich
     nur eine Ausrede, wie sein Vater behauptet hatte? Aber Jonas wusste alles noch ganz genau. Die gelben Augen, das verschmierte
     Fell, die zuckende Schwanzspitze, das Stöhnen, das Grollen, die ersten Worte … Zum Glück war Lippe dabei gewesen. Wenn er
     sich an dasselbe erinnerte, dann musste es wahr sein.
    Alles war still, als Jonas kurz darauf durch die Wohnung schlich. Der Vater war in der Feuerwache, die Mutter beim Einkaufen.
     Vera schlief wahrscheinlich noch. Mit angehaltenem Atem drückte er sich an ihrer Zimmertür vorbei. Ein schwarzes Stück Stoff
     war an die Tür geheftet, auf das Vera ein rotes V genäht hatte. Jonas und Lippe hatten das Zimmer
Vipernnest
getauft, und wenn sie Vera ärgern wollten, zischten sie wie Schlangen und flüsterten sich zu: »Achtung, da kommt Ihre Majestät
     gekrochen, die Königin der Giftschlangen.«
    Jonas überlegte kurz, ob er Vera für die Petzerei eine Knoblauchzehe ins Schlüsselloch quetschen sollte. Sie konnte den Geruch
     nicht ausstehen. Genau wie ein Vampir, sagte Lippe immer. Lippe! Er musste ihn anrufen. Sie mussten sich so schnell wie möglich
     treffen, am geborstenen Stein, am besten gleich.
     
    |41| Der geborstene Stein war eine Tischtennisplatte, wie sie überall in der Siedlung zwischen den Hochhäusern standen. Das Besondere
     an dieser Platte war der fingerbreite Riss, der die Steinfläche spaltete. Die Oberfläche war dunkelgrau, fast schwarz, weil
     nie auf ihr gespielt wurde. Jenseits der Platte erhoben sich zwei mächtige siebzehnstöckige Wohnklötze wie Wehrtürme einer
     Burg. Riesig, uneinnehmbar. Zur anderen Seite fiel das Gelände ab. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die ferne
     Stadt, die sich unter einer Dunstglocke bis zum Horizont erstreckte.
    Es war ungefähr zwölf Uhr, als Jonas den geborstenen Stein erreichte. Die Sonne brannte vom Himmel, nicht der leiseste Lufthauch
     war zu spüren. Von Lippe keine Spur. Jonas setzte sich auf die Platte, genau auf den Riss, und ließ die Beine baumeln. In
     der Ferne hörte er ein Moped.
    »Wenn Sie jetzt einen fahren lassen, töten Sie unschuldige Kinder«, drang eine Stimme durch den Riss. Lippe! Jonas ließ sich
     auf den Boden gleiten. Sein Freund lehnte an einem der beiden Betonfüße der Platte.
    »Warum sagst du nicht, dass du schon da bist?«, fragte Jonas.
    Lippe schwieg. Wie zerrupfte Wolle standen die schwarzen Haare um sein schmales Gesicht ab. Jonas kroch unter die Platte und
     lehnte sich Lippe gegenüber an den anderen Betonfuß.
    Beide starrten sie auf den schmalen Streifen Sonnenlicht zwischen ihnen. Jonas hatte Angst. Angst, |42| dass er sich alles, was gestern passiert war, nur einbildete, oder, noch schlimmer, dass alles stimmte.
    »Was hast du denn für Schuhe an«, fragte Lippe in die Stille. »Da würde ich mir ja lieber die Füße abhacken als da reinzusteigen.«
    »Blödmann!« Jonas war wütend. Was sollte er machen? Er besaß nur noch zwei Paar Schuhe. Winterstiefel und die Schuhe, die
     er jetzt trug, tragen musste – seine Mutter hatte darauf bestanden. Sie waren aus dunkelblauem Wildleder, hatten Fransen an
     der Seite und vorne auf der Kappe einen roten Lederfleck in Form eines Herzens. Er sah Lippe finster an. »Meine Winterstiefel
     durfte ich nicht anziehen, und meine Turnschuhe liegen im Müll. Während ich in der Dusche war, hat meine Mutter alles weggeschmissen,
     was ich gestern anhatte.«
    »Die radikalste Reinigungsstufe«, meinte Lippe, »eine schlimme Sache. Da hilft nur eines, Nase: du musst ihnen zuvorkommen.
     Ich bin gestern zuerst runter in die Waschküche und hab alles in die Waschmaschine gestopft, auch die Schuhe – nur die Unterhose
     hab ich angelassen. Dann hab ich das ganze Zeug bei sechzig Grad gewaschen, ohne Waschmittel, weil das bei uns oben in der
     Wohnung ist. Und ich hatte die ganze Zeit Angst, dass jemand reinkommt …«
    »Und? Ist jemand gekommen?«
    »So eine verhutzelte Alte mit ihrem Wäschekorb wollte reinkommen. Da war ich gerade mal wieder dabei, hin und her zu hüpfen,
     um mich warmzuhalten. Die Alte hat die Augen aufgerissen,
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