Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
Vom Netzwerk:
irgendwas gekrächzt |43| und weg war sie. Aber das Schlimmste war die Kälte, vor allem, als ich mir die Haare gewaschen hab, mit kaltem Wasser, was
     anderes gibt’s nämlich nicht in der Waschküche. Und als ich dann meine Klamotten wieder anhatte, hab ich gedacht, ich kann
     mich nicht mehr bewegen, so nass und steif war das Zeug.«
    »Und deine Eltern?«, fragte Jonas, der sich vorstellte, wie der triefende Lippe vor der Wohnungstür stand und sich eine kleine
     Lache unter ihm bildete, während er aufsperrte.
    »Denen hab ich erzählt, dass ich beim Spielen in eine alte Badewanne mit Regenwasser gefallen bin. Meine Mutter war außer
     sich, hat rumgezetert: ›Junge, kannst du denn nicht aufpassen! Junge, du holst dir noch den Tod!‹, und so weiter. Mein Vater
     hat nur gesagt, dass er sich wundert, wie viel Wasser noch in der Wanne war, obwohl es schon so lange nicht mehr geregnet
     hat. Und dann hat er gegrinst, als ob er genau wüsste, was ich angestellt hatte – aber gesagt hat er nichts. Dann musste ich
     heiß duschen und mit einer Tasse Tee mit Marmelade ins Bett.« Lippes Familie stammte aus Russland und dort trank man den Tee
     mit Marmelade.
    Lippe war mit seinem Bericht am Ende und schnippte kleine Steine aus dem Schatten ins Sonnenlicht. Jonas saß einfach nur da
     und starrte auf die Ritzen der Pflastersteine zwischen seinen Füßen. Den Tiger hatten sie noch mit keinem Wort erwähnt. Eine
     Taube landete ein Stück entfernt und pickte am Boden herum. Lippe schoss einen Stein in ihre Richtung.
    |44| »Du hast ihn doch auch gesehen?«, fragte er plötzlich.
    »Ja«, sagte Jonas.
    »Ich hab gedacht, ich muss sterben«, sagte Lippe leise.
    »Ich auch.« In seinem Kopf hörte Jonas wieder das Stöhnen des Tigers in der Finsternis. »Und du hast ihn auch gehört?«, fragte
     er zögernd.
    »Ja, er hat …«, Lippe zögerte, »… gesprochen!« Pause. »Mensch, Nase, ein sprechender Tiger – das gibt’s nicht. Das kann es
     doch nicht geben!« Er starrte Jonas an.
    Jonas fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatten dieselbe verrückte Geschichte erlebt und dadurch war sie nur noch halb so verrückt.
    »Irgendwas war komisch an diesem Tiger«, sagte Jonas.
    »Stimmt.« Lippe verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Die Aussprache war nicht ganz sauber, irgendwie verknurrt.«
    »Ich meine nicht das Sprechen. Er hat uns nicht angegriffen.«
    »Weißt du, was ich glaube?« Lippes Augenbrauen zitterten, ein Zeichen, dass dahinter eine Idee entstand. »Der Tiger ist das
     Ergebnis eines Genversuchs. Ihm wurden menschliche Sprachgene eingepflanzt. Und weil solche Versuche verboten sind, wollten
     ihn die Wissenschaftler in der Kanalisation ertränken.« Lippe hatte sich in Fahrt geredet, sein ganzer Körper zuckte, fast
     hätte er sich den Kopf an der Tischtennisplatte gestoßen.
    |45| Jonas sah ihn misstrauisch an. »Aber wieso sagt er dann: ›Ich heiße Kunigunde Ohm.‹ So heißt kein Tiger.«
    »Der Tiger nicht!«, rief Lippe. »So heißt die Frau, von der die Sprachgene stammen.«
    »Weißt du«, sagte Jonas, »mir kam er gar nicht vor wie ein richtiger Tiger. So benimmt sich kein Tiger.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Weiß nicht, nur so ein Gefühl.«
    Lippe schwieg.
    »Hast du dir eigentlich schon mal überlegt«, fragte Jonas nach einer Weile, »wohin die Röhre führt, in der wir ihn haben liegen
     lassen?«
    »Wahrscheinlich in die große Baugrube hinter der Siedlung.«
    Lippe sah Jonas an, Jonas sah Lippe an – dann schüttelte Lippe unmerklich den Kopf, während sein Mund lautlos zwei Worte formte:
     OHNE MICH!

[ Menü ]
    |46| Nackt bis aufs Fell
    Rohre waren zu Pyramiden aufgeschichtet, Betonteile und rostige Gitter stapelten sich, dazwischen standen Bagger und Raupenfahrzeuge.
     Wie schlafende Eisensaurier streckten sie ihre Schaufeln und Kranarme in die Luft. Auf dem Boden lagen Balken und Holzbohlen,
     dazwischen Schubkarren, Eimer, Schaufeln … Ein ungeheures Durcheinander.
    Und überall konnte der Tiger stecken.
    »Wenn er hier ist«, flüsterte Lippe, »dann kann er uns jetzt schon hören, so verdammt still ist es.«
    »Dann sei ruhig«, zischte Jonas.
    Aber Lippe konnte nicht anders, er musste reden: »Tiger haben ein so scharfes Gehör, die hören sogar den Herzschlag einer
     Maus, und
zack
!«, er zog die gekrümmten Finger durch die Luft, »hat er dich!«
    »Dann pass auf, was du sagst, er versteht dich nämlich«, flüsterte Jonas. Sein Herz hämmerte wie wild.
    »Was
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher