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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye
Autoren: Marjorie M. Liu
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    Beruhige dich. Er hat dir nichts getan. Er ist stehen geblieben, als du »Nein« gesagt hast.
    Das war ein schwacher Trost, aber Dela hütete sich, sich auch nur einen Schritt weit von der schützenden Wand zu entfernen.
    »Sag mir, warum du hier bist.« Sie wollte unbedingt wissen, wieso ein über zwei Meter großer, bis an die Zähne bewaffneter Mann so plötzlich wie durch Magie erscheinen konnte.
    Weil es Magie war, du Idiotin!
    Aber das war unmöglich! Delas eigene parapsychischen Fähigkeiten waren gewiss merkwürdig, aber zumindest beruhten sie in gewisser Weise auf Wissenschaft. Das hier aber... dieser Mann... das war vollkommen unerklärlich.
    Er starrte sie einfach nur an. Dela spürte seine Verwirrung. Dieses kurze Aufblitzen von Unsicherheit in den goldenen Augen des Fremden schien merkwürdig. Es machte ihn irgendwie menschlicher, weniger magisch. Allerdings nicht weniger bedrohlich.
    »Also?« Sie wollte sich durch sein Schweigen nicht einschüchtern lassen.
    Der Mann bückte sich und hob die Schatulle auf. In seiner riesigen Hand wirkte sie noch kleiner. Sorgfältig schloss er den Deckel.
    »Ihr habt mich gerufen«, sagte er langsam und deutlich, als spräche er zu einer Verrückten. Er hob das Kästchen hoch und legte es dann auf den Bettrand. »Ihr habt den Deckel geöffnet, oder nicht?«
    Dela lachte, aber dieses Lachen blieb ihr sofort im Hals stecken. Ihre Belustigung schien den Mann zu reizen. Mit drei Schritten stand er vor ihr und blickte mit seinen glühend goldenen Augen auf sie herunter. Er fasste sie nicht an, aber sie spürte die Hitze seines Körpers auf ihrer nackten Haut. Das war überwältigend.
    »Ihr habt Glück, dass ich an die Beschränkungen der Schatulle gebunden bin«, grollte er. »Es hat einmal eine Zeit gegeben, als ich Spott über die Leiden anderer nicht duldete.«
    Einen Moment lang hatte Dela Angst, doch ihr Zorn war stärker, und sie klammerte sich an ihre Empörung. Sie legte beide Handflächen gegen seine Brust und drückte mit aller Kraft. Er rührte sich keinen Millimeter. Sie knurrte und knirschte mit den Zähnen.
    »Ich würde niemals über das Leiden anderer lachen«, fauchte sie mit derselben Verachtung, die sie auf seinem Gesicht so wütend gemacht hatte. »Ich habe gelacht, weil das hier alles vollkommen unmöglich ist, einfach verrückt. Ich habe das Licht gesehen, und wie du erschienen bist... Aber Männer kommen nicht einfach so aus Kästen wie Geister aus irgendwelchen Flaschen. Es ist doch lächerlich, und ich möchte wissen, was, zum Teufel, hier los ist. Ich bin zwar bereit, vieles zu glauben, aber das ist selbst für mich zu viel.«
    Der Mann legte seine Hand über die ihre. Sein Griff war warm und fest, er schien sich seiner Kraft gewahr zu sein. Und tat ihr nicht weh.
    »Ich bin wirklich da«, zischte er. »Ich bin keine Illusion.«
    Eigensinnig wollte Dela protestieren, aber sie sah ihm in die Augen, versank in seinem Blick, und was sie dort fand, ließ sie innehalten. Wut, die sich in Verwirrung verwandelte, gemischt mit tiefster Verzweiflung. Es kam ihr fast so vor, als erlebe sie den Wechsel der Jahreszeiten im Schnelldurchlauf, den Winter, der zum Frühling wurde, den Sommer, der den glühenden Farben des Herbstes wich. Es war ein voller Kreislauf der Jahreszeiten, der sich auf seinem wutverzerrten Gesicht vollzog.
    Es war einfach zu viel. Sie fühlte sich im Mittelpunkt dieses Kreises gefangen, riss ihren Blick los und blickte hinab, zu ihren Händen, dann noch tiefer, zu den Messern, die in dem Gürtel um seine Taille steckten. Wie scharfe Haken bannten diese kurzen Klingen ihren Blick, der Stahl flüsterte ihren Namen.
    »Ihr glaubt mir nicht«, sagte er und ließ sie los. Eine merkwürdige Melancholie färbte seine Worte. Delas Blick zuckte zu seinem Gesicht zurück. Sie fand ihre Stimme nur mit Mühe wieder, während in ihrem Kopf die Klingen riefen und ihre Geheimnisse leise heraussangen.
    »Diese... die sind echt«, murmelte sie und blickte wieder auf die Waffen.
    Er schnaubte verächtlich. »Natürlich sind sie echt. Alle meine Waffen sind echt!«
    »Nein.« Dela zog einen der Dolche aus der Scheide. Sie war so sehr auf die Waffe konzentriert, dass sie den erstaunten Blick des Fremden gar nicht bemerkte. Ihre Finger glitten über die Scharten des Stahls und nahmen das Summen seines Alters in sich auf. Geschichten schlummerten in diesen Waffen, dieser Sammlung von Toden, die immer und immer wieder
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