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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye
Autoren: Marjorie M. Liu
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gefaltet und gehämmert worden waren.
    Dela öffnete sich dieser Empfindung, versank in die tiefe Ruhe, die nur von den ältesten und am meisten geliebten Gegenständen ausgelöst werden konnte. Energien, die im Lauf der Jahre durch den Kontakt mit Fleisch angesammelt worden waren, verliehen dem Stahl ein sehr zweifelhaftes Leben.
    »Diese Waffe ist über zweitausend Jahre alt«, flüsterte sie. Genauso alt wie diese rätselhafte Schatulle.
    »Woher kennt Ihr das Alter der Waffe?« Er klang argwöhnisch.
    Dela hörte ihn kaum. Sie fühlte seine Gegenwart in dem Stahl, seine Wut, sein bitteres Unbehagen. Schuld, Bedauern, Sehnsucht. Und Einsamkeit.
    Sie ertrank in Gefühlen, die nicht die ihren waren, verloren in der Geschichte der Klinge - und der des Mannes. Sie versank tiefer darin, in einem Wald aus scharfen Zähnen und Stahl, die verzweifelt durch ihren Verstand schnitten, wie ein Echo, das durch die aufblitzenden Bilder und Empfindungen von endlosen Schlachten und unaufhörlicher Gewalt zuckte. Jeder Tod hatte dem Mann, der diese Waffe geführt hatte, etwas bedeutet. Jeder Tropfen Blut war ein dunkles Zeugnis für einen schrecklichen Kummer.
    Dela forschte weiter und erhaschte einen kurzen Blick auf etwas Warmes, eine reine, klare Flamme. Sie versuchte, das Licht zu berühren, aber es wurde ihr entrissen, von einem rosafarbenen Schlund verschluckt, der mit grollenden, schwarzgoldenen Schatten gestreift war.
    Nein! Dela schrie auf, wehrte sich. Sie lief vor der Bestie davon, den Albträumen und Träumen, und als stünde sie unter Drogen, erhob sie sich langsam aus der Dämmerung dieser in den Stahl gebrannten Erinnerungen, entkam dieser Gruft der Vergangenheit und öffnete die Augen in der Gegenwart.
    Ihre Knie gaben nach. Der Mann hielt sie an den Armen fest, lehnte sie gegen die Wand und beugte sich vor. Seine kräftigen Hände lagen fest auf ihrer nackten Haut. Die ruhige Wärme hüllte Dela ein. Ihre Hand schmerzte. Sie merkte, dass sie das Messer mit der Faust umklammerte. Blut sickerte über ihre Handfläche.
    »Ihr habt geschrien!«, sagte er. Seine Stimme drang ihr bis in den Bauch und schlug die metaphysischen Stränge an, die sie noch mit der Waffe in ihrer Hand verbanden. Dela holte tief Luft. Sie hatte die Seele dieser Waffe erkundet und sich dabei fast verloren, war vollkommen eingetaucht in die Seele des Mannes, der dieses Messer geführt hatte.
    Derselbe Mann, der sie jetzt mit Augen betrachtete, die vor Argwohn dunkel waren. Sein Blick zuckte zu der Waffe, die sie hielt, zu dem Blut, das ihr Handgelenk hinunterlief. Dela wischte den Dolch an ihrem Handtuch ab. Er hinterließ leuchtend rote Flecken. Danach schob sie ihn in die Scheide zurück und ließ ihre Finger über den Griff gleiten. Die Stimmen waren zwar verstummt, aber sie konnte sich an sie erinnern. Sie erinnerte sich und hatte trotz der Gewalt, von der sie kündeten, keine Angst mehr.
    Sie presste ihre pochende Handfläche gegen ihren Bauch. Die Wunde war nur oberflächlich, schmerzte aber schlimmer als eine Verbrennung.
    »Ich... es hat mich überrascht.« Sie wusste nicht genau, wie viel sie ihm erzählen sollte, und fragte sich, ob es eine Rolle spielte. Ihre Geheimnisse waren gewiss weit weniger verwirrend als die dieses Mannes.
    Er verzog den Mund. »Ich habe schon Reaktionen wie die Eure erlebt. Obwohl bisher noch nie jemand seine Magie an mir gewirkt hat.«
    »Das ist keine Magie.« Dela hätte sich am liebsten hingelegt und so getan, als wäre das alles nur ein Traum. Sie wollte nicht über ihre Visionen sprechen, schon gar nicht mit diesem Fremden, der ihr plötzlich gar nicht mehr so fremd war. Sie war durch den Widerhall seiner Seele getanzt und tief in sein Herz gezogen worden. Wenn sie ihm jetzt in die Augen sah, erkannte sie dort mehr, als sie sollte. Die Verbindung zwischen ihnen war noch da, sie fühlte das Summen in ihrem Körper, als wären sie beide aus Stahl geschmiedet und das Metall ihrer Leiber im gleichen Feuer gehärtet.
    Dela schüttelte den Kopf und rieb sich mit ihrer unversehrten Hand über das Gesicht.
    »Du bist wirklich aus dieser Schatulle gekommen.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie kannte die Wahrheit. Seine Waffen bestätigten nur das, was ihre Augen nicht glauben mochten. Stahl log niemals, auch nicht über Männer mit glühenden Augen, die aus Licht zu Fleisch wurden.
    Wie machen sie das nur in den Büchern, wenn sich der Frosch plötzlich in einen Prinzen verwandelt oder der Dschinn aus
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