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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye
Autoren: Marjorie M. Liu
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Ding.
    Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre. Die Schatulle muss nichts mit diesem Kerl zu tun haben, der sich dir aufgedrängt hat. Vielleicht hat er dich einfach ganz willkürlich als Opfer ausgesucht.
    Das konnte sein, aber was hatte die alte Frau noch gesagt?
    Er scheint zu glauben, dass ich etwas Besonderes besitze, das er haben will.
    Stirnrunzelnd wickelte Dela behutsam Lage um Lage des feinen Leinentuchs ab. Die Qualität überraschte sie - schließlich stammte es vom Dreckmarkt. Als die Schatulle schließlich vor ihr lag, hielt sie unwillkürlich die Luft an.
    Es war schlichtweg eine exquisite Arbeit, von einer atemberaubend exotischen, beinahe mythischen Qualität. Das Kästchen war rund und kaum größer als Delas Handfläche. Das rote Rosenholz war so stark poliert, dass es fast schwarz schimmerte, und mit Intarsien aus Silber, Gold, Onyx und Lapis verziert. Im Deckel war eine fremdartige, unverständliche Schrift eingraviert worden, die eher wie eine musikalische Notation aussah, nicht wie Worte. Die geschwungenen Seiten waren mit einer Vielzahl von höchst kunstfertigen Holzschnitzereien geschmückt, die eine Geschichte erzählten: Ein wundervoller Tiger, der durch einen dichten Wald schlich; dann wurde das Biest plötzlich zum Mann, kämpfte, wütete - dann war er wieder der Tiger, diesmal liegend und in einen Käfig eingesperrt.
    Die Details waren einfach unglaublich, unvorstellbar genau und subtil ausgearbeitet. Dela hatte noch nie eine solche Klarheit und Präzision der Linienführung erlebt, nicht einmal in ihrer eigenen Kunst. Und ihre Methoden waren, gelinde gesagt, höchst unorthodox. Sie strich mit den Fingern über die Schnitzereien und die hellen Intarsien. Sie meinte fast das golden gestreifte Fell des Tigers unter ihren Fingern zu fühlen und nahm wahr, wie er gefangen wurde. Das Gefühl von Gefangenschaft stimmte Dela unerklärlicherweise traurig.
    Sie drückte die Schatulle an ihre Wange und schloss die Augen. Endlich registrierte sie eine Spur von Metall in ihrem Bewusstsein. Aber diese war nur sehr, sehr schwach, ein uraltes Wispern, wie das Rascheln eines vertrockneten Blattes.
    Das Alter der Schatulle erschreckte sie. Ein seltsam beklemmendes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Dela folgte dem Metall mit dem Verstand und ertastete seine schlummernden Geheimnisse. Sie waren Jahrtausende alt, zwei, vielleicht sogar mehr. Es verschlug ihr vor Ehrfurcht fast den Atem.
    Was hat sich die alte Frau dabei gedacht, als sie mir diese Schatulle verkauft hat?, ging ihr durch den Kopf. Das Stück ist doch unbezahlbar.
    Dann dachte Dela an den merkwürdigen Mann, der sie verfolgt hatte, an die kryptischen Bemerkungen der Alten, und plötzlich ergab das Verhalten des Mannes einen Sinn. Sie hielt den kleinen Schatz in ihren Händen, drehte ihn zwischen den Fingern, ebenso sicher, wie sich ihre Gedanken drehten und wanden. Ja, dafür würde jemand töten, entführen oder rauben. Aber warum hatte der Mann gewartet, bis Dela die Schatulle gekauft hatte? Warum hatte er sich nicht an die alte Frau gehalten, wenn er doch vermutete, dass sie den Schatz in ihrem Besitz hatte? Sie wäre gewiss ein einfacheres Ziel gewesen.
    Dela seufzte. Sie verstand, dass die Alte die Schatulle hatte loswerden wollen, wenn sie annahm, dass dieser Schatz ihr Leben kosten könnte, aber auf dem Schwarzmarkt hätte sie gewiss mehr als nur einen Yüan erzielt! Das war einfach unlogisch.
    Dela versuchte, den Deckel zu öffnen, doch ließ er sich nicht bewegen. Sie betrachtete das Kästchen und lächelte. Es war eine richtige Rätselschatulle. Sie brauchte eine Viertelstunde, bei der sie eher ihre Instinkte als ihre Augen benutzte, aber schließlich fand sie den Öffnungsmechanismus. Er steckte in einer Onyxklaue und einem silbernen Blatt. Sie drückte beides gleichzeitig und hob den Deckel von der Schatulle...
    Die Erde schwankte.
    Ein heftiger Schwindelanfall warf Dela in die Kissen zurück, und sie hielt sich den Kopf. Die Düfte überwältigten sie beinahe. Fruchtbarer Lehm, Baumharz, Holzrauch. Die Essenz eines grünen Waldes breitete sich in ihrem Hotelzimmer aus. Es war stockdunkel, aber Dela hielt die Augen geschlossen. Sie hatte Angst, feststellen zu müssen, dass sie sich nicht mehr in ihrem Hotelzimmer wiederfand, wenn sie sie aufschlug. Wie Dorothy, die nach Oz versetzt worden war. Genauso orientierungslos fühlte sie sich.
    Allmählich registrierte Dela das Bettlaken unter ihren nackten Beinen. Das weiche
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