Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiger Eye

Titel: Tiger Eye
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
aus, trug Sandalen zu einer weiten Hose und ein weites, weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Er wirkte frisch und sauber - und irgendwie deplatziert, obwohl Dela nicht genau hätte sagen können, warum.
    Erst glaubte sie, er starre sie an, was er vielleicht auch getan hatte, aber jetzt musterte er die alte Frau, die in ihren Waren wühlte, und Dela fühlte sich unerklärlicherweise unbehaglich. Seine Augen waren kalt, abschätzend, und blickten mit einer siedenden Intensität, die überwältigend gewirkt hätte, wären sie nicht mit einem so attraktiven Gesicht und Körper gepaart gewesen.
    Als sich die alte Frau mit einem triumphierenden Seufzer aufrichtete, trat Dela dichter an sie heran.
    »Hinter mir«, flüsterte sie, »steht ein Mann, der Sie beobachtet.« Es kümmerte sie nicht, ob die Frau sie für merkwürdig hielt.
    Ihre goldgesprenkelten Augen flackerten etwas - und ein Schatten schien über ihr Gesicht zu huschen. »Ich habe mich schon an ihn gewöhnt. Er scheint zu glauben, dass ich etwas Besonderes besitze, das er haben will.«
    »Ich mag ihn nicht«, erklärte Dela.
    Die alte Frau lächelte. Ihre Zähne blitzten kurz auf, wie die scharfen Fänge eines Raubtieres. »Deshalb werde ich Euch einen Gefallen tun. Für einen Yüan könnt Ihr diese Rätselschatulle kaufen.«
    Dela starrte sie an. Ein Yüan war ein unglaublich niedriger Preis für den Dreckmarkt, wo alles zu inflationär teuren Summen angeboten wurde, vor allem Ausländern. Dann senkte sie den Blick auf den Gegenstand, den die Alte in den Händen hielt. Er war in ein Leinentuch eingewickelt, und darunter zeichneten sich weiche, runde Kanten ab. Holz, vermutete sie, obwohl sie das Gefühl hatte, dass sich etwas noch Härteres unter dem Tuch verbarg. Kein Metall. Denn nichts sprach zu ihr.
    »Was ist das für ein Rätsel?«, fragte sie.
    Die alte Frau fletschte die Zähne. »Wählt!«
    Dela sah sie scharf an und griff nach der Schatulle. Die Frau zog sie zurück und schüttelte den Kopf.
    »Verkauft und gekauft«, flüsterte sie. Dela zuckte unter der Eindringlichkeit ihres Blickes zusammen, der sie mehr beeindruckte als das Starren des Mannes, der sie immer noch beobachtete. »Sie muss verkauft und gekauft werden. Einen Yüan, bitte.«
    Dela brachte es nicht über sich, zu widersprechen oder sich zu weigern. Trotz der merkwürdigen Atmosphäre bei diesem Handel, dem vagen Unbehagen, das auf ihrem Rücken prickelte, fischte sie eine Banknote aus ihrer Börse und reichte sie der alten Frau.
    Diese seufzte erneut und sah tief in Delas Augen. »Eine gute Wahl«, sagte sie, und Dela spürte eine tiefere, rätselhafte Bedeutung in ihren Worten. Dann schob ihr die Alte die verpackte Schatulle behutsam in die Handtasche, rasch, als wollte sie die Geste verbergen. Dela fühlte sich unwohl.
    Du solltest eigentlich klüger sein!, schalt sie sich. Diese »Schatulle« könnte voller Drogen sein, und du spielst den ahnungslosen amerikanischen Kurier, der herumtappt, bis du von der Polizei aufgegriffen und in ein stinkendes Gefängnis gesteckt wirst.
    Oder auch nicht. Sie musterte das mysteriöse Gesicht der alten Frau. Träume und Vorzeichen, erinnerte sie sich und unterdrückte ein Erschauern. Die stickige Luft schien plötzlich gar nicht mehr warm zu sein. Ihr war kalt bis auf die Knochen.
    Die alte Frau trat zurück, lächelte und sah plötzlich genauso aus wie jeder andere Händler auf dem Dreckmarkt. Der Blick ihrer Augen war zwar scharf, aber sie wirkten doch irgendwie glasig.
    »Auf Wiedersehen«, sagte sie und kehrte Dela den Rücken zu.
    Dieser plötzliche Umschwung in ihrer Haltung, von zutraulich zu abweisend, überrumpelte Dela. Sie hätte fast protestiert, doch aus dem Augenwinkel registrierte sie, wie dieser seltsame Mann dort seine Aufmerksamkeit nun plötzlich auf sie richtete. Es war eine merkwürdige Empfindung, fühlbar, wie klebrige Finger auf ihrem Nacken. Und unmöglich zu ignorieren.
    Geh!, flüsterte ihr Instinkt ihr zu.
    Ohne die Alte noch eines Blickes zu würdigen, setzte sich Dela in Bewegung, marschierte den Gang entlang, weg von dem seltsamen Fremden und seinem suchenden Blick. Sie sah nicht zurück, wand sich anmutig durch die immer dichter werdende Menschenmenge, glitt an Buden und Händlern vorbei, an zerlumpten Männern und Frauen, die aus der Hocke hochkamen und ihr Vasen vor das gerötete Gesicht schoben. Das Frösteln verschwand, und jetzt überwältigten sie die Hitze und die drängenden, stoßenden Leiber beinahe,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher