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Tiefer

Titel: Tiefer
Autoren: Sophie Andresky
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wurde, nichts dazu verleitete, sich weiter ins Innere zu
     tasten. Wie malt man das Nichts? Rieke hatte es immer wieder versucht, aber es gelang ihr nicht, sie hatte den Modellen mehr
     gezahlt, damit sie sie von dem Haarnest und seinem Urzeitreptil weiter hinuntertasten ließen, aber sie fand das, was sie suchte,
     nicht. Rieke trat einen Schritt zurück und beobachtete Moritz-Maurice und sein Abbild auf der Leinwand. Alles noch in Ordnung,
     sehr sachliche, kühle Linien. Rieke mischte den Farbton seiner Haut auf der Palette, ein mexikanisches Beige, und merkte,
     dass ihr wärmer wurde, als sie begann, mit der Farbe seine Schenkel herauszubilden. Kleine Schweißtröpfchen rannen ihr unter
     dem Kopftuch dicht an den Ohren vorbei. Sie nahm einen härteren Pinsel, wischte über die Farbe, drückte neue Tuben aus, rührte
     mit dem Pinsel durch, stach auf die Leinwand ein und spachtelte die Farbe. Unmerklich war sie einen Schritt zur Seite getreten,
     sodass sie mehr den Mann im Blick hatte als ihr Gemälde. Sein Gesicht sah sie nicht und auch nicht, dass er seine Zehen bewegte,
     damit ihm in der unbequemen Haltung, |205| in der er vor Rieke lag, nicht die Füße einschliefen. Aber seinen Beckenknochen, der unter der mexikobeigen Haut spannte,
     sah sie, die Linie seines Schenkels, die der Muskel mit dem blöden Namen spannte, das schwarze Gekräusel sah sie und das Reptil,
     das ganz vorsichtig darin zuckte, seinen Schlaf beendete, seinen Kopf hob und sie ansah. Rieke war sich sicher, dass es sie
     ansah. Sie ließ den Pinsel fallen und griff mit dem Finger in die Farbe, schmierte sie zu den anderen, drückte neue Tuben
     direkt auf dem Bild aus und verteilte die weiche Masse mit dem Handballen. Weiter ging ihr Blick zu der runderen Form, die
     prall und dunkelrot im Nest lag wie ein Geschenk, und sie musste daran denken, wie sie als Kind vorsichtig die überreifen
     Pflaumen mit Lippen und Zähnen geöffnet hatte und wie der rötliche Saft über ihr Kinn getropft war, und Rieke leckte sich
     über die Lippen und malte die Form mit den Fingerspitzen rund und runder, immer im Kreis ging ihr Finger, bis ihr schwindlig
     war. Rieke schwitzte jetzt so, dass ihr die weite Bluse am Rücken klebte, sie zog sie aus und stand nackt wie ihr Modell im
     Atelier, bald über und über mit Farbe beschmiert, mexikobeige meistens. Und dann musste sie es selbst anfassen, und sie ging
     hin zum Modell und fühlte unter ihren Händen statt der Paste und der Leinwand jetzt warme Haut, die gerieben und mit Farbe
     bedeckt werden wollte. Rieke hörte Moritz-Maurice von weit her stöhnen, irgendwo zwischen den Kissen grunzte und atmete er,
     aber das ging sie nichts an, sie kümmerte sich |206| nur um das Nest und das Reptil, das nach Farbe schmeckte, und weiter unten um das merkwürdige Nichts, wo es nach Terpentin
     roch und nicht weiterging. Sie suhlte sich mit ihm in der Farbe, manchmal konnte sie nicht mehr unterscheiden, ob sie das
     Modell anfasste oder vor der Leinwand stand, es vermischte sich alles so sehr in diesem Gemisch aus Farben, dass Rieke ganz
     schwindlig wurde.
    Schließlich lag sie schwer atmend in den verrutschten Kissen und sah ihre beschmierten Hände und die mexikobeigen Schlieren,
     die sie überall bedeckten. Ihr Kopf hämmerte. Sie zündete sich eine Zigarette an und überlegte, ob sie es wirklich sehen wollte,
     das unvollendete Bild. Auf der Akademie hatte es nur sie und ihre Kunst gegeben. Wie eine Nonne hatte sie jedes gute Gemälde
     angebetet, und ihre Gemälde waren fast immer gut. Und dann war diese Sache dazwischengekommen. «Zeit für einen Exorzisten»,
     murmelte Rieke, nahm das Bild von der Staffelei und lehnte es mit der bemalten Seite gegen die Wand. Dort stapelten sich,
     unbesehen und oft noch feucht in den Schichten, wo die Farbe besonders dick aufgetragen war, Hunderte von Leinwänden. Alle
     mexikobeige.

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    |207| Das Mauerkaktus-Mädchen
    Als mir der Captain endlich in die Augen sah, verbrannte er mir den Arm mit seiner Zigarette, und kurz danach war ich fast
     nackt. Dass seine Meute anfangen würde zu jodeln, war ja klar gewesen.
    Die Meute, die immer um ihn herumwieselte wie Beagles kurz vor dem Jagd-Halali, bestand aus einem halben Dutzend Mädchen und
     Jungen, die alle größer als ich waren und alle schöner. Neben ihnen sah ich aus wie eine schlecht gezeichnete Comicfigur,
     zu klein irgendwie, zu gedrungen, und in meinem Gesicht war nie dieser wissende, überlegene
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