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Tiefer

Titel: Tiefer
Autoren: Sophie Andresky
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aussehen, und die Teenies sind frustriert, weil sie fettige Haare haben und Pickel und nicht
     wissen, wohin mit ihren viel zu langen Armen und Beinen. Und weil sie ständig so tun müssen, als wüssten sie, was sie wollen,
     wenn sie vor den anderen Halbgaren herumspringen. Dabei hat man in dem Alter überhaupt keine Ahnung. Als ich dreizehn war,
     habe ich in der Bravo gelesen, dass sich die Länge des Schwanzes verdoppeln kann, wenn er steif wird. Ein paar Seiten später
     stand nun, der Euroschwanz sei etwa 16   cm lang. Also: 32   Zentimeter in Gefechtsstellung. Jungsein ist echt scheiße.
    In guten Nächten bewege ich mich erst einmal, manövriere mich vorbei an Holzfällertypen, die auf der Tanzfläche herumtapsen
     wie angeschossene Grizzlybären, und gealterten Frauen, die direkt vor einem der Stehtische wippen und ihre eigene Handtasche
     zwischen den fleckigen Gläsern antanzen. Die wissen genau, dass ihre Handtasche das Einzige ist, was heute Nacht mit ihnen
     nach Hause geht, und drum sind sie nett zu ihr. Ich arbeite mich vor bis zu einem Pärchen, einer Frau mit weichem Mund, der
     man nicht gleich ansieht, dass sie auch Geheimnisse hat, und ihrem Mann, der von ihr zum Tanzen überredet wurde, der sein
     Hemd über der Hose trägt und bei dem das niedlich aussieht.
    Ich genieße es zu tanzen, die Füße fest auf dem Boden, und nur der Oberkörper zuckt und ruckelt, sodass sich |13| die kleinen Kirschbrüste unter meinem Oberteil bewegen wie Kugeln in einem Flipperautomat. Ich gebe meiner Hüfte einen Stoß
     nach rechts und fühle, wie meine Knochen nachschwingen, alles an mir schwingt. Ich wäre gerne dicker. Ich hätte gerne einen
     Arsch, der die Hose prall ausfüllt, wenn ich in die Knie gehe, und ich hätte gerne kleine Röllchen über dem Hosenbund, wenn
     ich mit der Hüfte kreise. Und ich hätte gerne Brüste, große Brüste, die ich wackeln lassen kann beim Tanzen. An mir ist eigentlich
     gar nichts dran. Als hätte mich das Leben abgenagt wie ein halbes Hähnchen vom Grill. Vielleicht bin ich deshalb so erfolgreich,
     meine Kunden mögen das. Die wollen keine saftige, wirkliche, fleischige Frau, die wollen ein Nichts, ein Hauch von einem Etwas.
     Die wollen nicht in mich hineintauchen wie in die Schlüpfermädchen mit ihren prallen Oberschenkeln und rosigen Hintern, die
     wollen, dass ich in sie krieche , dass ich da in ihrem Kopf eine Leere fülle, und um in diese Männer hineinzukommen, muss ich sehr, sehr schmal sein, fast unsichtbar.
     Und so bin ich auch. Im Grunde bin ich eher ein Hologramm als eine Frau.
    Heute ist eine gute Nacht, das merke ich gleich. Eine Nische ist noch fast frei. Ein Pärchen sitzt da, ein Frollein mit seinem
     Herrchen. Er zupft sich ständig an seinem ersten Ziegenbart herum, ohne zu bemerken, wie uncool das ist, und sie hat den Sexappeal
     eines Frottébezugs und zwitschert immer wieder, was für ein «Hype» das hier im Ulysses ist, als wäre sie eine Schallplatte |14| mit einem Sprung. Die haben von nichts eine Ahnung, nicht mal vom Küssen, das sieht aus, als würden sie sich gegenseitig die
     Mandeln ablecken – na ja, vielleicht will sie mal Kieferchirurgin werden oder HN O-Ärztin , wenn sie groß ist. Aber stören werden sie mich auch nicht. Ich mache meinen Job sehr professionell, ehrlich gesagt, bin
     ich die beste Mundhure in diesem Laden, vielleicht auch die einzige.
    Ich bestelle etwas und sehe mich um. Eine Gruppe von Typen in weiten Seidenhemden versucht es vergeblich bei zwei Vorstadtfriseusen,
     denen wohl heute Abend der Föhn explodiert ist. Eine hübsche Schwarze wehrt sich gegen die Zudringlichkeiten eines speichelnden
     Michelin-Männchens. Das Sofa ist weich, und das Trockeneis, das immer wieder über die Tanzfläche geblasen wird, riecht betäubend
     süßlich, fast möchte ich schlafen, aber man lässt mich nicht. Milz steht vor dem Tisch, hebt eine Hand hoch, dreht mir die
     Innenfläche zu und bleibt dann mit eingefrorenem Lächeln stehen wie eine Schaufensterpuppe. Er ist immer noch ein ganz Kerniger,
     nicht mehr ganz so muskulös wie damals, als er eine Rollschuh-Nummer in einem Varieté hatte und jeden Tag zweimal seine Frau
     durch die Luft wirbelte, aber immer noch tadellos. Seine nackte Brust unter dem offenen Hemd ist unbehaart und fest. Seine
     Beine sehen endlos aus in der Lederhose und den hochhackigen Stiefeln. Sein Gesicht mit den grauen Augen und dem schönen breiten
     Mund wirkt fast künstlich, seine Glatze wechselt
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