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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz
Autoren: Arne Dahl
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er sich lakonisch, denn wie meldet man sich anders am Telefon, wenn man nicht schwer gestört ist? Oder möglicherweise ein Anrufbeantworter …
    Es war einen Augenblick still. Papa Altbratt sah ihn an, als wäre er dabei, einem vom Aussterben bedrohten Adler die Federn auszureißen. Lisa Altbratt sah weiter verwundert aus.
    »Skansen?« stieß der Adlerschänder aus. Das war alles. Dann stand er auf, streichelte Lisa übers Haar und streckte dem Vater die Hand hin. »Ich muß fort, leider. Ich melde mich noch einmal.«
    Auf der Treppe der Kinderaufnahme des Karolinska schien ihm eine Vormittagssonne ins Gesicht, die nicht wärmte. Astrid Lindgrens Kinderkrankenhaus.
    Er klopfte sich an sämtliche Taschen, während er zum Parkplatz ging. Die Autoschlüssel waren verschwunden. Anderseits hatten sie es so an sich, verschwunden zu sein, also führte er das Klopfritual ein zweites Mal durch, und simsalabim! schon schwebten sie aus der Tasche des viel zu dünnen Jacketts herauf. Same procedure as last year.
    Es war einer dieser frischen Frühlingsmorgen, mit denen die erste Woche im Mai um sich zu werfen pflegt. Solche Tage, die durchs Fenster so einladend aussehen, sich dann aber als heimtückisch maskierte Wintertage erweisen. Da er immer zu dünn angezogen war, hatte er jetzt praktisch nichts an. Die jämmerlichen Kleidungsfetzen boten nicht den geringsten Widerstand gegen die Eiswinde. Er versuchte, sie dichter um den Körper zu ziehen, aber da war nichts, was er dichter zusammenziehen konnte.
    Es war neun Uhr am Vormittag, und die Autoschlangen um Haga Södra und Norrtull standen vollkommen still. Im letzten Jahr hatte der Autoverkehr drastisch zugenommen. Auf einmal war es überaus attraktiv, in Staus festzusitzen. Billige Psychotherapie vermutlich, eine Serie von Käfigen, in denen Urschreie ausgestoßen werden konnten. Anderseits waren die Alternativen kürzlich privatisierte Pendelzüge, die nie fuhren, oder gleichfalls privatisierte U-Bahnen, die stundenlang in finsteren Tunneln feststeckten, oder das Fahrrad auf sadistisch angelegten Radwegen, die niemand zu benutzen wagte, weil sie für äußerst häßliche Unfallverletzungen gemacht zu sein schienen.
    Okay, er war ein Meckerpott.
    Selbst hatte er wirklich keinen Grund zu klagen. Die rote U-Bahnlinie war von Dummheiten einigermaßen verschont geblieben. Seine tägliche lange U-Bahnfahrt zwischen Norsborg und Stockholm widmete er wie bisher intensivem, weitabgewandtem Hören von Jazz. Nach einem Ausflug in die Welt der Oper, einem leicht zerrütteten Kommissar Morse nicht unähnlich, war er zum Jazz zurückgekehrt. Er konnte sich nicht richtig von den Bebop-Jahren um 1960 losreißen. Gerade jetzt war es Miles Davis. Kind of Blue. Fabelhafte Meisterwerke ganz einfach, jedes einzelne Stück auf der Platte. Fünf Klassiker: ›So What‹, ›Freddie Freeloader‹, ›Blue in Green‹, ›All Blues‹ und ›Flamenco Sketches‹ – alle während des goldenen Jahres 1959 im Studio improvisiert. Die Musiker kamen ins Studio, ohne die Musik vorher gesehen zu haben. Miles kam mit einem Stapel Notenblätter, und sämtliche fünf Stücke sollen beim allerersten Versuch gesessen haben. Irgendwie so, als wäre dies eine Musik, die entstand, während sie vorgeführt wurde, die sich unmittelbar setzte. Eine neue Art von Blues, unendlich erdnah, unendlich sophisticated. Jede Sekunde ein Genuß.
    Doch während der Arbeit gab es einen Dienstwagen. Er drückte den auf wunderbare Weise herbeigezauberten Schlüssel ins Zündschloß des beigefarbenen alten Audis, blickte über den Verkehr hin und seufzte schwer.
    Es würde wahrscheinlich schneller gehen, nach Djurgården zu schwimmen.
    Denn dorthin war er unterwegs. Der Kollege und Tandempartner Jorge Chavez hatte diesen versteckt hoffnungsvollen Unterton in der Stimme, nach dem Paul Hjelm sich schon lange sehnte. »Ich glaube, du solltest herkommen, Paul. Nach Skansen.«
    Daß er gerade von einem anderen Fall kam, der mit der Umgebung von Skansen verknüpft war, machte die Sache zusätzlich interessant.
    Er blieb bereits auf dem Gelände des Karolinska in Autoschlangen stecken und beschloß, keine Urschreie auszustoßen. Es war die Mühe nicht wert. Statt dessen ließ er die CD mit Kind of Blue in den CD-Spieler des Autoradios gleiten und lächelte, als die ersten Töne sich wie Honig über seine Trommelfelle legten. Während er sich sanftmütig aus dem riesigen Krankenhausgelände hinauskämpfte, verfiel er darauf,
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