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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz
Autoren: Arne Dahl
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einzigen Menschen gesehen. Dennoch hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Ein vages Gefühl, wie eine Ahnung. Dinge, die knapp außerhalb seines Gesichtsfelds vorbeizugleiten schienen. Er schüttelte es von sich ab. Das waren keine Gefühle für einen Mann, der eine Stadt erobern wollte.
    Er nahm die Pikdame von der Parkbank, leckte sie genüßlich sauber, steckte sie in die Innentasche, dem Herzen am nächsten, und klopfte sich an die Brust seines hellrosafarbenen leichten Sommerjacketts. Dann rollte er den Tausender auseinander, der während der unmessbaren Zeit des Rauschs an seiner Hand geklebt hatte. Wieder schleckte er Reste von weißem Pulver auf und riß dann den Tausendkronenschein demonstrativ in lange Streifen, die er zu Boden fallen ließ. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Es war vollkommen windstill.
    Als er sich in Bewegung setzte, gab er ein Klappern von sich. Das tat er jetzt immer. Für ihn war Reichtum noch an der Dicke der Goldkette zu messen, die er um den Hals trug. Die Leute sollten seinen Erfolg hören.
    Er war erstaunt, daß die Vattugränd, deren Namen auf dem Straßenschild er mühsam buchstabierte, vollständig menschenleer war. Gingen Schweden abends nicht auf die Straße? Jetzt erst spürte er, wie kalt es geworden war. Und fast pechschwarz. Und vollkommen still. Nicht ein einziger jubelnder Kinderschrei vom Tivoli.
    Wie lange hatte er, in seinen Rausch versunken, dort unten am Wasser gesessen?
    Etwas wuselte zu seinen Füßen. Einen Moment lang dachte er, es wären sich windende Schlangen. Tiere. Ein kurzer Schreck.
    Dann sah er, was es war.
    Streifen von einem Tausendkronenschein.
    Er drehte sich um. Schaumkronen auf Saltsjön. Und der Wind zog eiskalt geradewegs durch ihn hindurch. Die Tausendkronenscheinschlangen wirbelten weiter, auf Djurgårdsstaden zu.
    Da war ihm wieder so eigentümlich, als wäre er nicht allein. Nichts. Überhaupt nichts. Und dennoch dieses Gefühl. Eine eisige Gegenwart von etwas. Ein Eiswind durch die Seele. Und auch wieder gar nicht. Als befände es sich die ganze Zeit gerade an dem Punkt, den sein Blick nicht mehr erreichte.
    Er kam hinaus auf die große Straße. Kein Mensch. Kein Fahrzeug. Er überquerte sie und drang in den Wald ein. Es kam ihm vor wie Wald. Bäume überall. Und die Gegenwart von etwas immer deutlicher. Ein Käuzchen rief.
    Ein Käuzchen? dachte er. Tiere, dachte er.
    Und da sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten, der hinter einen Baum glitt. Und noch einen.
    Er stand still. Das Käuzchen rief wieder. Minerva, dachte er. Die Mythologie der Alten, die ihm in seiner Schulzeit in den Armenvierteln von Athen eingetrichtert worden war.
    Minerva, die Göttin der Weisheit, Athenas Name, als sie von den Römern gestohlen wurde.
    Er blieb eine Weile stehen und versuchte, Athena zu gleichen. Weise zu sein.
    Geschieht dies in der Wirklichkeit? Bilde ich mir diese beinah unmerklichen Bewegungen nicht ein? Und warum verspüre ich Angst? Habe ich nicht Auge in Auge mit völlig ausgerasteten Fixern gestanden und sie mit ein paar schnellen Bewegungen betäubt? Ich bin Herrscher über ein Imperium. Was fürchte ich?
    Da nimmt der Schrecken Gestalt an. Irgendwie fühlt sich das besser an. Als der Ast dort hinter der Fichte knackt und das Geräusch selbst den zunehmenden Wind übertönt, weiß er, daß es sie gibt. In gewisser Weise ist das schön. Eine Bekräftigung. Er sieht sie nicht, aber er nimmt Tempo auf.
    Es ist fast kohlrabenschwarz, und es kommt ihm vor, als liefe er durch einen Urwald. Die Zweige peitschen ihn. Und die dicke Goldkette klimpert und klimpert. Wie eine Kuhglocke.
    Tiere, denkt er und stürzt über die Straße. Kein einziges Auto. Es ist, als hätte die Welt aufgehört zu existieren. Nur er und irgendwelche Wesen, die er nicht versteht.
    Mehr Wald. Bäume überall. Der Wind, der durch ihn hindurchpfeift. Der Eiswind. Und die Schatten, die überall an den Rändern seines Gesichtsfelds gleiten. Urzeitwesen, denkt er, überquert einen kleinen Weg und läuft direkt in einen feinmaschigen Drahtzaun. Er wirft sich auf den Zaun. Der schwankt. Er klettert und klettert. Die Finger rutschen ab. Und kein Geräusch außer dem Wind. Doch, da: das Käuzchen. Gellend. Käuzchenschrei verzerrt. Ein furchtbarer Laut, der sich mit dem unablässigen Wind vereint.
    Ein Urzeitschrei.
    Seine Fingerspitzen sind aufgeschnitten und blutig von den nadelscharfen Maschen. Die Gegenwart von etwas ist jetzt überall. Das Spiel dunklerer Schatten durch das
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