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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz
Autoren: Arne Dahl
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vergewaltigt, mißhandelt, erniedrigt hat. Es ist eine Frau, die alle Frauen ist, die ein Tier wird, das eine Frau wird, die ein Tier wird. Ein goldiges kleines marderähnliches Gesicht, das zerbirst zu einem riesenhaften, mörderischen Rachen. Es verbeißt sich in sein Gesicht, und er fühlt, wie seine blutenden Fingerspitzen auf erdigem Boden tanzen und verspürt einen Schmerz, der jede Vorstellungskraft übersteigt, der den Angriff des Tieres, des Tieres, das sich gerade mit seiner Backe davonmacht, wie ein Streicheln erscheinen läßt. Und er versteht nichts, absolut nichts.
    Außer daß er stirbt.
    Daß er vor reinem Schmerz stirbt.
    Und da, mit einem letzten Schub von Genugtuung, erinnert er sich an den Namen der Schattengestalten.
    Das letzte, was er spürt, ist Erde, die in die blutenden Fingerspitzen gesogen wird.
    Das beruhigt.

2
    Der alte Fischer hatte viel gesehen. Tatsächlich glaubte er nur, alles gesehen zu haben. Als er jetzt gegen Abend seinen Stand mit Melonen zusammenpackte, der schon vor langer Zeit die Fischernetze abgelöst hatte, mußte er sich eingestehen, daß es doch noch Überraschungen gab. Und auch das überraschte ihn. Das Leben – und vor allem der Tourismus – hatte immer noch ein gewisses Maß an Wahnsinn zu bieten. Das war ein beruhigendes Gefühl. Das Leben war noch nicht ganz am Ende.
    Schon vor vielen Jahren hatte der alte Fischer eingesehen, daß das Geld, welches ihm der Verkauf von Melonen an Touristen einbrachte, die Einkünfte aus seiner Fischerei bei weitem überstieg. Von der bedeutend geringeren Anstrengung ganz zu schweigen.
    Er hatte nicht viel für Anstrengungen übrig. Was ein richtiger Fischer indessen haben sollte.
    Der alte Fischer blickte aufs ligurische Meer, das vor ihm unter dem abendlichen Frühlingshimmel lag und sich wölbte, als würde es ebenso intensiv genießen wie der Betrachter. Der Blick des alten Fischers wanderte hinauf zu den bewaldeten Hügeln, die das kleine Dorf umgaben, und weiter hinauf zu der Mauer um die alte Stadt, die einst ein etruskischer Hafen gewesen war. Doch davon wußte der alte Fischer nichts. Er wußte nur, und er ließ die nach Pinien duftende Meeresluft Atemzug um Atemzug durch seine Zahnlücken pfeifen, daß Castiglione della Pescaia sein Zuhause war und daß er sich hier wohl fühlte.
    Und daß er heute zum erstenmal seit langer, langer Zeit überrascht worden war.
    Es hatte recht harmlos angefangen. Mit seinem leicht verdunkelten Blick hatte er mitten am Strand einen blauweißen Sonnenschirm wahrgenommen, wo die übrigen Sonnenanbeter sich so schutzlos wie nur möglich der Frühjahrssonne darboten. Unter dem Sonnenschirm saßen drei Kinder unterschiedlichen Alters, alle kreideweiß, ihre Haut ebenso leuchtend weiß wie ihre Haare. Dann kam noch ein solches Kind und setzte sich, und schließlich eine ebensolche erwachsene Frau mit dem kleinsten ebensolchen Kind an der Hand. Sechs kreideweiße Menschen saßen jetzt aneinandergedrückt unter dem Sonnenschirm und teilten den kleinen kreisförmigen Schatten auf dem mäßig sonnenbeschienenen Strand.
    Von dem seltsamen Anblick fasziniert, ließ der alte Fischer für einen Augenblick den Geschäftssinn ruhen und vernahm wie aus der Ferne:
    »Cinque cocomori, per favore.«
    Das Erstaunen über die merkwürdige Familie unter dem blau-weißen Sonnenschirm vermischte sich mit dem Erstaunen über die gigantische Bestellung – und steigerte sich noch einmal beim Anblick des gutmütig lächelnden Kunden.
    Es war ein magerer, gänzlich kreideweißer Mann in einem ausgebeulten Leinenanzug und mit einem bizarren Sonnenhut mit knallgelbem Pikachu.
    Der eigenartigen Aussprache zum Trotz war die Bestellung glasklar. Wiewohl absurd.
    »Cinque?« stieß der alte Fischer hervor.
    »Cinque«, nickte der Kreideweiße, nahm das Bestellte entgegen und taumelte wie ein betrunkener Jongleur mit fünf großen Wassermelonen in den Armen den Strand entlang. Sie sanken nacheinander vor dem Sonnenschirm in den Sand, wie gewaltige Samenkörner, die ein Riese ausstreute. Der kreideweiße Mann warf sich beinah in den Schatten, als habe er sich in einer radioaktiv verseuchten Zone befunden und endlich den Strahlenschutzbereich erreicht.
    Der alte Fischer überlegte eine Weile, wie fünf Wassermelonen auf sieben Personen zu verteilen wären. Danach formulierte er die unausweichliche Frage: Warum reist man nach Italien, an die Küste der Toskana, in die Maremma, nach Castiglione della Pescaia, wenn man keine
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