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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe
Autoren: Henning Mankell
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korrekter Kleidung einzufinden.
    Lars Tobiasson-Svartman hatte nicht daran gezweifelt, daß die Zeichnungen verkäuflich seien. Tausend Kronen waren viel Geld, selbst für einen erfolgreichen Ingenieur wie Göthe Wilhelm Svenson.
    Er versuchte, sich den steigenden und sinkenden Bewegungen des Schiffs anzupassen. Er dachte an den Abend, an dem er im Wohnzimmer in der Wallingata über die Zeichnungen gebeugt saß. Da hatte eigentlich die Reise begonnen.
    Es war Ende Juli, die Hitze drückend, alle warteten auf den großen Krieg, der jetzt unausweichlich schien. Die Frage war nur, wann die ersten Schüsse abgefeuert werden würden, und von wem, auf wen. Die Depeschenbüros der Zeitungen füllten ihre Schaufenster mit hitzigen Berichten. Gerüchte kamen auf und wurden verbreitet, niemand wußte etwas Genaues, aber alle meinten, gerade sie hätten die richtigen Schlußfolgerungen gezogen.
    Über Europa flogen unsichtbare Telegramme zwischen Kaiser, Generälen und Ministern hin und her. Die Telegramme waren wie ein verirrter, aber gefährlicher Vogelschwarm.
    Auf dem Schreibtisch hatte ein Zeitungsausschnitt mit der Photographie des deutschen Schlachtkreuzers Goeben gelegen. Der Dreiundzwanzigtausend-Tonner war das schönste, aber auch das furchterregendste Schiff, das er je gesehen hatte.
    Seine Frau kam ins Zimmer und berührte behutsam seine Schulter. »Es ist schon spät. Was ist denn so wichtig?« »Ich studiere das Schiff, auf dem ich reisen werde. Da es für mich Zeit wird, an einen unbekannten Ort zu gehen.«
    Sie strich ihm immer noch über die Schulter. »Unbekannter Ort? Mir mußt du doch sagen können, wohin du fährst?«
    »Nein. Nicht einmal dir.«
    Die Finger tasteten über seine Schulter. Ihre Hand streifte den Stoff kaum. Trotzdem spürte er die Bewegung im tiefsten Innern.
    »Was kannst du von all diesen Strichen und Zahlen ablesen? Ich kann nicht einmal erkennen, daß es ein Schiff ist.«
    »Ich sehe gern das, was man nicht sehen kann.«
    »Was ist das?«
    »Die Idee. Das, was dahintersteckt. Der Wille vielleicht, der Ehrgeiz. Ich weiß es nicht sicher. Aber es gibt immer etwas dahinter, was man nicht sofort entdecken kann.«
    Sie seufzte ungeduldig. Sie hatte aufgehört, mit den Fingern über seine Schultern zu streichen, und begann stattdessen, ungeduldig mit dem Zeigefinger gegen sein Schlüsselbein zu trommeln. Er versuchte zu deuten, ob sie ihm eine Mitteilung schickte.
    Schließlich nahm sie die Hand weg. Er stellte sich vor, es sei ein Vogel, der aufflatterte.
    Ich sage nicht die Wahrheit, dachte er. Ich vermeide es, zu sagen, wie es ist. Daß ich nach einem Punkt an Deck suche, wo man mich von der Kommandobrücke aus nicht sehen kann.
    Was ich eigentlich suche, ist ein Versteck. 
Er sah aufs Meer hinaus.
    und Geduld. Was war dann geschehen, an jenem Abend im Juli, kurz bevor die Kriegserklärungen ausgefertigt wurden? Was an den Tagen der drückenden Hitze, in denen Millionen von jungen Menschen in Europa rasch mobilisiert wurden?
    Er hatte die Zeichnungen eine knappe Stunde lang studiert, dann hatte er den Punkt gefunden, nach dem er suchte. Er wußte, wo er sein Versteck einrichten konnte.
    Er schob die Zeichnungen beiseite. Von der Straße her hörte er ein unruhiges Brauereipferd wiehern. In einem der inneren Zimmer der großen Wohnung stellte Kristina Porzellanfiguren um, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Ein Klang wie von gedämpften Glocken. Obwohl sie seit neun Jahren verheiratet waren und selten ein Abend verging, an dem sie nicht in den Regalen umräumte, war noch keine Figur zu Boden gefallen und zerbrochen.
    Aber danach? Was war dann geschehen? Er konnte sich nicht erinnern. Es war, als wäre in der Erinnungsflut ein Leck entstanden. Etwas war verronnen.
    Der Juliabend war windstill gewesen, die Hitze drückend, die Temperatur hatte 27 Grad betragen. Vereinzelte Donnerschläge waren aus der Richtung von Lidingö zu hören gewesen, wo sich schwarze Wolken vom Meer her näherten.
    Er dachte an die Wolken. Sie riefen in ihm eine Unsicherheit hervor: Ob er sich eine Wolkenformation leichter merken konnte als das Gesicht seiner Frau?
    Er schüttelte die Gedanken ab und blinzelte ins Morgengrauen hinaus. Was sehe ich? dachte er. Dunkle Felseninseln an einem noch frühen schwedischen Herbstmorgen. Irgendwann in der Nacht hatte der wachhabende Offizier den Rudergänger angewiesen, den Kurs in eine südlichere Richtung zu verändern. Die Geschwindigkeit betrug sieben oder vielleicht
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