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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe
Autoren: Henning Mankell
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mit dem Kopf voran hinunterwerfen mußte, um mit Sicherheit tot zu sein.
    Er befand sich exakt in der Mitte des Landungsstegs. Mit Augenmaß hatte er die totale Länge auf sieben Meter geschätzt. Jetzt befand er sich also dreieinhalb Meter vom Kai entfernt und ebenso weit von der Reling des Schiffs.
    Seine frühesten Erinnerungen handelten von Entfernungen. Zwischen ihm selbst und seiner Mutter, zwischen seiner Mutter und seinem Vater, zwischen Fußboden und Decke, zwischen Unruhe und Freude. Sein ganzes Leben handelte von Entfernungen, davon, sie zu messen, zu verkürzen und zu verlängern. Er war ein einsamer Mensch, der ständig nach neuen Entfernungen suchte, um sie zu bestimmen oder abzulesen.
    Entfernungen zu messen glich einer Beschwörung, es war sein Instrument, um die Bewegungen von Zeit und Raum zu zügeln.
    Die Einsamkeit war von Anbeginn, soweit er sich erinnern konnte, wie seine zweite Haut gewesen.
    Kristina Tacker war nicht nur seine Frau. Sie war auch der unsichtbare Deckel, den er über den Abgrund legte.
    Ein kaum merklicher Nieselregen zog an diesem Oktobertag 1914 über Stockholm hin. Von der Wallingata war sein Gepäck auf einer Karre über die Brücke zum Djurgarden und Galärvarvskaj gezogen worden. Obwohl nur er und der Mann mit dem Karren dabei waren, hatte er das Gefühl gehabt, an einer Prozession teilzunehmen.
    Die Koffer waren aus braunem Leder. In dem speziell angefertigten Futteral aus Kalbsleder lag sein kostbarster Besitz. Es war ein Lot für präzise Seevermessung.
    Das Lot war aus Messing, hergestellt 1701 in Manchester von Maxwell & Swansons Marinetechnische Betriebe. Optische und navigationstechnische Instrumente wurden von geschickten Spezialisten angefertigt und in der ganzen Welt verkauft. Das Unternehmen war zu Ruhm und Ansehen gelangt, da Kapitän Cook ihre Sextanten favorisierte, auch noch auf seiner letzten Reise in den Pazifik. Man warb damit, daß sogar japanische und chinesische Seefahrer diese Produkte benutzten.
    Wenn er nachts mit einer schwer faßbaren Unruhe aufwachte, stand er auf und holte das Lot hervor. Er nahm es mit ins Bett, preßte es an die Brust und schlief dann gewöhnlich wieder ein.
    Das Lot atmete. Der Atem war weiß.
    Das Panzerschiff Svea war auf der Lindholmen-Werft in Göteborg gebaut worden und im Dezember 1885 vom Stapel gelaufen. 1914 hatte man es aus dem aktiven Dienst zurückgezogen, da es bereits unmodern geworden war. Doch der 
Beschluß war rückgängig gemacht worden, da die schwedische Marine nicht für den großen Krieg plante. Das Leben des Schiffs wurde im Augenblick der Schlacht verlängert. Als ob man ein Arbeitspferd im letzten Moment begnadigen und wieder auf die Straße schicken würde.
    Lars Tobiasson-Svartman wiederholte im Kopf rasch die wichtigsten Schiffsmaße. Die Svea war 75 Meter lang und hatte eine äußerste Breite von gut 14 Metern. Die Bestückung mit schwerer Artillerie bestand aus zwei 25,4-Zenti-meter-Kanonen M/85 mit großer Reichweite, produziert von Maxim-Nordenfelt, London. Die mittelschwere Artillerie umfaßte vier 15-Zentimeter-Kanonen, ebenfalls in London hergestellt. Hinzu kam die leichtere Artillerie sowie eine unbekannte Anzahl von Maschinengewehren.
    Er ging weiter in Gedanken durch, was er über das Schiff wußte, das ihn erwartete. Die Besatzung bestand aus 250 Berufssoldaten und wehrpflichtigen Matrosen sowie dem Offizierskorps von 22 Mann.
    Die Antriebskraft, die in dem Schiff vibrierte, kam von zwei liegenden Verbundmaschinen, die ihre Pferdestärken aus sechs Dampfkesseln bezogen. Die Geschwindigkeit war auf einer Probefahrt mit 14,68 Knoten gemessen worden.
    Es gab ein weiteres Maß, das ihn interessierte. Der Abstand zwischen Kiel und Grund am Galärvarvskaj betrug gut zwei Meter.
    Er drehte sich um und sah zum Kai hinüber, als hätte er gehofft, seine Frau wäre trotz allem gekommen. Aber da waren nur ein paar Jungen mit Angeln und ein betrunkener Mann, der in die Knie ging und dann langsam umfiel.
    Die Böen von der Ostsee her wurden immer kräftiger. Sie waren hier oben auf dem Deck des Schiffs am Landungssteg stärker zu spüren.
    Er wurde von einem Flaggsteuermann aus seinen Gedanken gerissen. Der Mann schlug die Hacken zusammen und stellte sich als Anders Höckert vor. Lars Tobiasson-Svart-man salutierte, aber es bereitete ihm Unbehagen. Jedesmal, wenn er die Hand zum Mützenrand heben mußte, durchlief ihn ein Schauder. Als nähme er an einem lächerlichen Spiel teil, das er
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