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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe
Autoren: Henning Mankell
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sieht, ist keine Kiefer, sondern ein einsam gelegener Leuchtturm auf einer Klippe irgendwo weit draußen in den kargen und verlassenen Schären. Sie merkt kaum, daß sie mit den stummen Bäumen nicht mehr allein ist.
    Kristina Tacker ist an diesem Tag im Herbst 1937 siebenundfünfzig Jahre alt. In ihrem Gesicht gibt es noch eine 
Schicht erhaltener Schönheit. Es ist zwölf Jahre her, seit sie zuletzt ein Wort geäußert hat. In ihrem Krankenjournal wird Tag für Tag, Jahr für Jahr, ein einziger Satz wiederholt:
    Die Patientin ist gleichbleibend unerreichbar.
    In derselben Nacht: Es ist dunkel in ihrem Zimmer in der großen Klinik. Sie ist wach. Der Strahl eines Leuchtturms streicht vorbei, ein ums andere Mal, wie eine lautlose Uhr aus Licht in ihrem Kopf.
    Dreiundzwanzig Jahre zuvor, auch da an einem Herbsttag, stand er, der ihr Mann war, und betrachtete das Panzerschiff Svea, das am Galärvarvskaj in Stockholm vertäut lag. Lars Tobiasson-Svartman war Marineoffizier, er betrachtete das Schiff mit wachsamen Augen. Hinter den verrußten Schornsteinen nahm er das Kastell und die Skeppsholmskyrka wahr. Das Licht war grau, er kniff die Augen zusammen.
    Es war Mitte Oktober 1914, der große Krieg herrschte seit zwei Monaten und neunzehn Tagen. Lars Tobiasson-Svartman verließ sich nicht vorbehaltlos auf die neuen, eisenbeschlagenen Kriegsschiffe. Die älteren Schiffe aus Holz gaben ihm immer das Gefühl, einen warmen Raum zu betreten. Die neuen Schiffe mit ihrem Rumpf aus vernieteten Panzerblechen waren kalte, unberechenbare Räume. Insgeheim argwöhnte er, daß diese Schiffe sich nicht zähmen ließen. Hinter den mit Kohle beheizten Dampfmaschinen oder den neuen Motoren, die mit Öl betrieben wurden, walteten andere Kräfte, die sich nicht kontrollieren ließen.
    Hin und wieder kam eine Bö von der Ostsee her.
    Er stand an dem steilen Landungssteg, zögernd. Es verwirrte ihn. Woher kam die Unsicherheit? Sollte er seine Reise abbrechen, ehe sie überhaupt angefangen hatte? Er suchte nach einer Erklärung. Aber alle seine Gedanken waren fort, verschluckt von einer Nebelbank in seinem Innern.
    Ein Matrose hastete den Landungssteg hinunter. Das brachte ihn wieder ins Jetzt zurück. Keine Kontrolle zu haben war eine Schwäche, von der niemand wissen durfte. Der Matrose nahm seinen Koffer, die Kartenrolle und das eigens angefertigte braune Futteral, in dem er sein kostbarstes Messinstrument verwahrte. Er wunderte sich, daß der Matrose das sperrige Gepäck ganz allein trug.
    Der Landungssteg schwankte unter seinen Füßen. Zwischen dem Schiffsrumpf und dem Kai war das Wasser zu sehen, dunkel, unerreichbar.
    Er dachte an die Worte seiner Frau, als sie sich in der Wohnung in der Wallingata getrennt hatten.
    »Jetzt beginnt etwas, wonach du dich schon lange gesehnt hast.«
    Sie standen in der dunklen Diele. Sie wollte ihn zum Schiff begleiten, um Abschied zu nehmen. Aber gerade als sie den einen Handschuh anzog, begann sie zu zögern, genau wie er selbst es soeben am Landungssteg getan hatte.
    Sie konnte nicht sagen, warum der Abschied plötzlich zu schwer geworden war. Das war nicht nötig. Sie wollte nicht weinen. Nach neun Ehejahren wußte er, daß es für sie schwieriger war, sich ihm weinend zu zeigen als nackt.
    Sie nahmen rasch Abschied. Er versuchte ihr zu erklären, daß er nicht enttäuscht war.
    Innerlich verspürte er Erleichterung.
    Er blieb mitten auf dem Landungssteg stehen und fühlte, wie das Schiff sich fast unmerklich bewegte. Sie hatte recht. Er sehnte sich fort. Doch er war keineswegs sicher, wonach er sich eigentlich sehnte.
    Gab es ein Geheimnis, das er selbst nicht kannte?
    Er liebte seine Frau über alles. Jedesmal, wenn er eine Dienstreise antrat und sie zum Abschied küßte, sog er wie nebenbei den Duft ihrer Haut ein. Es war, als würde er diesen Duft lagern wie einen guten Wein oder vielleicht wie Opium, das er hervorholen konnte, wenn er sich so verlassen fühlte, daß er Gefahr lief, die Kontrolle über sich zu verlieren.
    Noch immer benutzte seine Frau ihren Mädchennamen. Warum, das wußte er nicht, und er wollte auch nicht fragen.
    Ein Schlepper ließ drüben am Kastellholm Dampf ab. Er fixierte eine Sturmmöwe, die unbeweglich im Aufwind über dem Schiff verharrte.
    Er war ein einsamer Mensch. Seine Einsamkeit war wie ein Abgrund, und er fürchtete, daß er sich eines Tages hineinstürzen würde. Er hatte berechnet, daß der Abgrund mindestens vierzig Meter tief sein mußte und daß er sich
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