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Terrorist

Terrorist

Titel: Terrorist
Autoren: John Updike
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thermodynamische Gesetz?
    Das Sterben von Würmern und Insekten, deren Körper so rasch in der Erde, im Unkraut und im Teer der Straßen verschwinden, spricht dafür, dass sein eigener Tod ebenso unbedeutend und endgültig sein wird. Auf dem Weg zur Schule ist Ahmed ein Zeichen aufgefallen, eine Spirale, auf das Pflaster geschrieben mit dem leuchtenden Schleim, den engelgleichen Körpersäften eines Wurms oder einer Schnecke, irgendeines niedrigen Lebewesens, von dem nur diese Spur übrig geblieben ist. Wohin war das Geschöpf, dessen Pfad sich ohne Ziel einwärts ringelt, unterwegs? Wenn es dem heißen Gehweg entkommen wollte, auf dem es in der glühenden Sonne verbrannte, dann war es ihm nicht gelungen, und es hatte sich fatal im Kreis bewegt. Doch in der Mitte der Spirale gab es keinen kleinen Wurmkörper mehr.
    Wohin also war der Körper geflogen? Vielleicht hatte Gott ihn aufgepickt und geradewegs in den Himmel geholt. Ahmeds Lehrer Scheich Rashid, der Imam der Moschee in der ersten Etage der West Main Street 2781½, sagt, dass sich nach der geheiligten Tradition der hadith solche Dinge manchmal ereignen: Der Bote, der das geflügelte weiße Pferd Buraq ritt, wurde vom Engel Gabriel durch die sieben Himmel an einen Ort geleitet, wo er mit Jesus, Moses und Abraham betete, bevor er auf die Erde zurückkehrte und zum letzten der Propheten wurde, dem letzten und höchsten. Den Beweis für seine Abenteuer an jenem Tag bildet der deutliche Hufabdruck, den Buraq auf dem Felsen unter der heiligen Kuppel im Zentrum von Al-Quds hinterließ, der Stadt, welche die Ungläubigen und Zionisten – deren Qualen im Feuer von djehannim in der siebten, elften und fünfzehnten Sure des Buchs der Bücher gut beschrieben stehen – Jerusalem nennen.
    Wunderbar klangvoll rezitiert Scheich Rashid die einhundertvierte Sure, die al-Hutama, das alles fressende Feuer, behandelt:
     
    Doch wie kannst du wissen, was al-Hutatna ist?
    Es ist das Feuer Gottes, das in der Hölle angefacht ist
    und den Verdammten bis ins Herz dringt.
    Seine Flammen schlagen über ihnen zusammen
    in langgestreckten Feuersäulen.
     
    Als sich Ahmed bemüht, den Bildern im Arabischen des Korans – den langgestreckten Säulen, fi amadin mumaddada, dem Gewölbe hoch über den Herzen der Menschen, die sich angsterfüllt zusammenkauern und in den sich auftürmenden Dunst weißer Hitze, n ā ru ‘l-l ā hi ‘m ū qada, hineinzuspähen versuchen – irgendeinen Hinweis darauf zu entnehmen, dass der Barmherzige Nachsicht walten lässt und al-Hutama Einhalt gebietet, da senkt der Imam, dessen Augen von einem überraschend hellen Grau sind, sanft und unbestimmbar wie die einer Heidenfrau, den Blick und sagt, dass diese Beschreibungen von Visionen des Propheten im übertragenen Sinn zu verstehen sind. In Wahrheit geht es in ihnen um die glühende Pein der Trennung von Gott und um unser loderndes Bereuen von Sünden wider seine Gebote. Der Ton jedoch, in dem der Imam dies sagt, gefällt Ahmed nicht. Er erinnert ihn an den wenig überzeugenden Ton seiner Lehrer an der Central High. Er vernimmt darin das Raunen Satans, eine Verneinung im Mantel einer positiven Aussage. Der Prophet meinte physisches Feuer, wenn er unversöhnliches Feuer predigte; er konnte die Tatsache ewigen Feuers gar nicht oft genug betonen,
    Scheich Rashid ist nicht so viel älter als Ahmed – vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Jahre. Die weiße Haut seines Gesichts weist kaum Falten auf. Seine Bewegungen sind scheu, aber sicher. In den Jahren, die er Ahmed an Alter übertrifft, hat die Welt ihn geschwächt. Wenn ihm das Raunen der Teufel, die von innen an ihm nagen, anzuhören ist, hat Ahmed das Gefühl, er könnte sich erheben und den Imam vernichten, so wie Gott den armen Wurm im Zentrum der Spirale verglühen ließ. Der Glaube des Schülers ist fester als der des Lehrers. Es beängstigt Scheich Rashid, das geflügelte, unaufhaltsam vorwärts stürmende weiße Ross des Islam zu reiten. Er ist bestrebt, die Worte des Propheten abzumildern, sie mit unserem Denken zu verschmelzen, doch dafür sind sie nicht geschaffen: Sie dringen in unsere menschliche Weichheit ein wie ein Schwert. Allah ist der Höchste und über jegliche Besonderheit erhaben. Es gibt keinen Gott außer ihm, dem lebendigen, dem unwandelbaren. Er ist das Licht, neben dem die Sonne schwarz wirkt. Er verschmilzt nicht mit unserer Vernunft, sondern zwingt sie, sich so tief zu neigen, dass sie sich im Staub die Stirn aufschürft und wie
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