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Terror

Terror

Titel: Terror
Autoren: Dan Simmons
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waren noch weitergegangen.
    Er selbst hatte nie Menschenfleisch angerührt.
    Bis auf den heutigen Tag plagten Franklin Zweifel, ob es den anderen Expeditionsteilnehmern, einschließlich seines engen Freundes und stellvertretenden Kommandanten Dr. John Richardson, gelungen war, dieser Versuchung zu widerstehen. Zu viel war geschehen, als die Gruppen getrennt voneinander durch die arktischen Eiswüsten und Wälder stolperten und mit
letzter Kraft versuchten, zu Franklins kleinem behelfsmäßigen Fort Enterprise und den echten Forts Providence und Resolution zurückzugelangen.
    Neun Weiße und ein Eskimo starben. Neun von einundzwanzig Männern, mit denen der dreiunddreißigjährige Leutnant John Franklin, schon damals pummelig und mit schütterem Haupthaar, 1819 von Fort Resolution aus aufgebrochen war. Dazu ein indianischer Führer, den sie unterwegs aufgelesen hatten und dem Franklin untersagt hatte, die Truppe zu verlassen und sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Zwei Männer waren kaltblütig ermordet worden. Und mindestens einer von ihnen wurde von den anderen aufgegessen. Aber nur ein Engländer fand den Tod. Nur ein einziger echter Weißer. Die anderen waren lediglich französische Voyageurs oder Indianer. Das war immerhin ein kleiner Erfolg – nur ein weißer Engländer tot, auch wenn alle anderen am Ende nur noch stammelnde Skelette mit Bart waren.
    Auch wenn alle anderen bloß überlebten, weil George Back, dieser verteufelte, lüsterne Seekadett, eintausendzweihundert Meilen auf Schneeschuhen zurückgelegt hatte, um Vorräte und – noch wichtiger – weitere Indianer mitzubringen, die Franklin und seine verhungernden Männer ernähren und versorgen konnten.
    Dieser verfluchte Back. Alles andere als ein guter Christ. Arrogant. Kein wahrer Gentleman, obgleich er später für eine Arktisexpedition zum Ritter geschlagen wurde, eine Reise mit ebenderselben Terror , die Sir John jetzt befehligte.
    Auf dieser Expedition Backs war die Terror von einem hochschießenden Turm aus Eis fünfzig Fuß in die Luft geschleudert worden und dann mit solcher Gewalt wieder aufgeschlagen, dass sämtliche Eichenplanken des Rumpfs beschädigt wurden. Doch George Back brachte das leckende Schiff den ganzen weiten Weg zurück zur irischen Küste und landete nur wenige Stunden,
bevor es gesunken wäre. Die Mannschaft hatte Ketten um den Rumpf gespannt, die die Planken so lange zusammenhielten, bis das Schiff die Heimat erreicht hatte. Alle Männer litten unter Skorbut – schwarz verfärbtes Zahnfleisch, blutende Augen, wackelnde Zähne – und unter den damit einhergehenden Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen.
    Natürlich wurde Back danach in den Ritterstand erhoben. So verfuhren eben England und die Admiralität nach einer kläglich gescheiterten Polarexpedition mit schweren Verlusten an Menschenleben. Hatte man überlebt, bekam man einen Titel und eine Parade. Nach der Heimkehr von seiner zweiten Landvermessungsexpedition in den hohen Norden Amerikas im Jahr 1827 war Franklin von König George IV. höchstpersönlich zum Ritter geschlagen worden. Die Geographische Gesellschaft von Paris verlieh ihm eine Goldmedaille. Man übertrug ihm das Kapitänsamt für die schöne kleine, mit sechsundzwanzig Geschützen bestückte Fregatte HMS Rainbow und beorderte ihn ins Mittelmeer, eine Verlegung, die jeder Kapitän der Royal Navy täglich mit Stoßgebeten herbeiflehte. So kam es, dass er um die Hand einer engen Freundin seiner verstorbenen ersten Frau Eleanor anhalten konnte: der schönen, tatkräftigen, freimütigen Jane Griffin.
    »Also habe ich Sir James beim Tee erklärt«, bemerkte Jane soeben, »dass mir das Ansehen und die Ehre meines geliebten Sir John unendlich viel teurer sind als der selbstsüchtige Genuss seiner Gesellschaft, selbst wenn er vier Jahre in der Fremde weilt … oder fünf.«
    Wie hieß gleich wieder die fünfzehnjährige Ahtna-Indianerin, wegen der sich Back im Winterquartier in Fort Enterprise hatte duellieren wollen?
    Greenstockings. Das war der Name. Greenstockings.
    Dieses Mädchen war durch und durch schlecht. Schön, ja, aber schlecht. Sie besaß keinerlei Schamgefühl. Obgleich er sich nach Kräften bemühte, nie in ihre Richtung zu schauen, war
Franklin in einer hellen Mondnacht einmal Zeuge geworden, wie sie aus ihren heidnischen Gewändern schlüpfte und splitternackt durch die halbe Kajüte schlich.
    Er war damals bereits vierunddreißig Jahre alt, doch sie war die erste unbekleidete Frau,
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