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Terror

Terror

Titel: Terror
Autoren: Dan Simmons
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verdammter Dreidecker, der schon alt war, bevor Noah Flaum auf der Oberlippe hatte. Das Schiff hatte bereits seit fünfzehn Jahren ohne Masten vor Anker gelegen und diente als Schulschiff für die aussichtsreichsten Geschützoffiziere. »So leid es mir tut, meine Herren«, erklärte Crozier den Jungen an ihrem ersten Tag an Bord – der Kapitän hatte an diesem Tag mehr als das übliche Quantum getrunken –, »wenn Sie sich umsehen, wird Ihnen auffallen, dass die Terror und die Erebus zwar als Mörserschiffe gebaut wurden, aber zusammen nicht über ein einziges Geschütz verfügen. Ich kann Ihnen versichern, meine jungen Herren Freiwilligen
von der Excellent , dass wir abgesehen von den Büchsen der Seesoldaten und den in der Spirituslast eingeschlossenen Schrotflinten so waffenlos wie ein neugeborener Säugling sind. So waffenlos wie der verdammte Adam in seinem verdammten Geburtstagskleid. Mit anderen Worten, meine Herren, als Waffenkundige sind Sie für diese Forschungsreise ungefähr so nützlich wie Zitzen an einem männlichen Bären.«
    Croziers Sarkasmus konnte die Begeisterung der jungen Geschützoffiziere jedoch nicht dämpfen; wenn überhaupt, waren Irving und die beiden anderen danach sogar noch mehr darauf erpicht, für mehrere Winter im Eis festzusitzen. Allerdings hatte sich das Ganze an einem warmen Maitag des Jahres 1845 in England abgespielt.
    »Und jetzt hat sich dieser bedauernswerte Milchbart in eine Eskimofrau verschossen«, schimpft Crozier leise vor sich hin.
    Als hätte sie seine Worte verstanden, dreht sich Silence langsam zu ihm um.
    Meist ist ihr Gesicht tief in der großen Kapuze vergraben, oder ihre Züge werden von der weiten Halskrause aus Wolfspelz verdeckt, aber heute sind ihre winzige Nase, die großen Augen und der volle Mund zu sehen. Das funkelnde Polarlicht spiegelt sich in ihrer schwarzen Iris.
    Kapitän Francis Rawdon Moira Crozier findet diese Person in keinster Weise reizvoll; sie hat so viel von einer Wilden an sich, dass er sie nicht als vollwertigen Menschen und schon gar nicht als körperlich anziehend wahrnehmen kann. Zudem sind sein Geist und seine unteren Körperregionen noch immer erfüllt von deutlichen Erinnerungen an Sophia Cracroft. Dennoch kann Crozier verstehen, warum sich Irving, weit entfernt von der Heimat, der Familie und irgendeiner Liebsten, in diese Heidin verliebt hat. Neben den tragischen Umständen ihrer Ankunft, die zum Tod ihres männlichen Begleiters geführt haben und so sonderbar verwoben sind mit den ersten Angriffen der monströsen
Wesenheit dort draußen in der Finsternis, muss auch ihre Fremdartigkeit auf den hoffnungslosen jungen Romantiker John Irving eine magische Anziehung ausüben wie eine Flamme auf eine Motte.
    Crozier dagegen hat 1843 in Van Diemen’s Land und noch ein letztes Mal in England, wenige Monate vor dem Aufbruch der Expedition, festgestellt, dass er für Romantik zu alt ist. Und zu irisch. Und zu gewöhnlich.
    Im Augenblick wünscht er sich nur, dass diese junge Frau einen Spaziergang hinaus aufs dunkle Eis macht und nie mehr zurückkommt.
    Als wäre es gestern gewesen, erinnert sich Crozier an den Tag vor vier Monaten, da Dr. MacDonald sie untersucht und danach Franklin und ihm Bericht erstattet hat. Am selben Nachmittag noch war der Eskimomann in ihrer Begleitung seinen Verletzungen erlegen.
    Nach MacDonalds fachlicher Meinung war das Eskimomädchen zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre alt – bei Ureinwohnern war das schwer zu beurteilen – und, obwohl die Menarche schon eingetreten war, allem Anschein nach Virgo intacta. Außerdem nannte Dr. MacDonald auch den Grund, weshalb sie, selbst nachdem ihr Vater oder Mann niedergeschossen worden war, keinen Laut von sich gab: Sie hatte keine Zunge. Nach Dr. MacDonalds Dafürhalten war ihre Zunge allerdings nicht abgeschnitten, sondern nahe der Wurzel abgebissen worden – entweder von ihr selbst oder von jemand anderem.
    Crozier war erstaunt, weniger über die fehlende Zunge als darüber, dass dieses Eskimoweib noch Jungfrau war. Als er damals mit Parrys Expedition in der Nähe eines Eskimodorfes überwinterte, verbrachte er genug Zeit in der Arktis, um zu begreifen, dass Geschlechtsverkehr für die Einheimischen etwas ganz Belangloses war. Geschlechtliche Begegnungen nahmen sie so leicht, dass die Männer Walfängern und Forschern im Austausch
gegen billigen Ramsch ihre Frauen und Töchter anboten. Manchmal gaben sich die Frauen auch einfach aus eigenem Antrieb hin und
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