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Teranesia

Titel: Teranesia
Autoren: Greg Egan
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ihm aus, wie beim Blick aus einem Flugzeug. Der Strand war noch nicht zu sehen, aber die Lagune, das Riff und dahinter das tiefere Meer.
    Nie zuvor war er so hoch hinauf gestiegen. Und obwohl seine Familie bestimmt nicht die ersten Menschen waren, die ihren Fuß auf diese Insel gesetzt hatten, war es undenkbar, dass ein gestrandeter Fischer sich jemals die Mühe gemacht hatte, hier heraufzuklettern, um die Aussicht zu bewundern, während er sich unten im Wald ein neues Boot bauen konnte.
    Prabir beobachtete den Horizont. Als er seine Augen vor der Sonnenglut abschirmte, blieb der Schweiß auf seiner Stirn lange genug flüssig, um durch die Brauen zu sickern und ihm die Sicht zu nehmen. Er wischte sich die Augen mit seinem Taschentuch trocken, das bereits mit Meerwasser und dem Schweiß des Fußmarsches durch den Wald getränkt war. Es war, als hätte er sich die Augen mit purem Salz eingerieben. Verärgert blinzelte er und ignorierte das Brennen, bis er überzeugt war, dass nirgendwo Land zu sehen war.
    Dann stieg er den Vulkan weiter hinauf.
    Ein Ausflug zum Krater stand außer Frage; selbst wenn er Wasser und Schuhe dabeigehabt hätte, wäre der Aufstieg einfach zu schwierig. Anhand der Vegetationsmuster auf Satellitenbildern hatte seine Mutter geschätzt, dass der Vulkan seit mindestens einigen tausend Jahren inaktiv war, doch Prabir hatte entschieden, dass knapp unter der Oberfläche des Kraters Lava zirkulierte und immer stärker nach draußen drängte. Hier oben gab es wahrscheinlich Feueradler, die die dünne Kruste aufpickten, um an das geschmolzene Gestein zu gelangen. Vielleicht kreisten sie sogar in diesem Augenblick über ihm. Da sie hell wie die Sonne strahlten, warfen sie keinen Schatten.
    Alle fünf Minuten hielt er an, um nach Land Ausschau zu halten, während er sich wünschte, er hätte auf der Fähre aufmerksamer auf das Aussehen der verschiedenen Inseln geachtet. Der Horizont war so verschwommen, dass er fürchtete, er könnte sich durch Wolkenbänke täuschen lassen, hinter denen sich lediglich ein fernes Gewitter verbarg, das im Anzug war. Er hatte sich am rechten Fuß verletzt, aber der Schnitt war nicht besonders schmerzhaft. Also verzichtete er auf eine genauere Untersuchung, um sich nicht durch den Anblick der Wunde entmutigen zu lassen. Seine Fußsohlen waren dick genug, um die Hitze des Felsens ertragen zu können, aber er konnte sich nirgendwo setzen, um auszuruhen, oder sich mit den Händen abstützen.
    Als schließlich ein undeutlicher grauer Fleck zwischen dem Himmel und dem Meer erschien, lächelte Prabir nur und schloss die Augen. Er hatte nicht mehr die Energie, um seinen Triumph angemessen auszukosten oder ihm gar in irgendeiner Form Ausdruck zu verleihen. Er schwankte eine Weile in der surrealen Hitze und dachte über seine Dummheit nach, dass er den Aufstieg völlig unvorbereitet begonnen hatte. Trotzdem war er froh, dass er es getan hatte. Dann suchte er sich einen scharfkantigen Stein und kratzte eine Linie in den Felsen, ungefähr dort, wo die ferne Insel erstmals sichtbar geworden war.
    Die Höhe über dem Meeresspiegel konnte er nicht notieren. Vermutlich wich sie nicht sehr von den fünfhundert Metern ab, die er in seiner Naivität errechnet hatte. Er musste noch einmal mit seinem Notepad herkommen, um die genaue Zahl vom GPS ermitteln zu lassen. Dann konnte er zurückrechnen und den Einfluss der Lichtbrechung bestimmen.
    Doch eine simple Linie war nicht genug. Zwar ließ sie sich kaum mit den natürlichen Strukturen des Felsens verwechseln, aber sie war trotzdem nicht sehr auffällig. Nur mit großem Glück würde er sie bei einem erneuten Aufstieg wiederfinden. Seine Initialen einzuritzen kam ihm zu kindisch vor, also notierte er das Datum: 10. Dezember 2012.
    Im Glückstaumel machte er sich auf den Rückweg zum Wald. Zweimal rutschte er aus und verletzte sich an der Hand, was ihn jedoch nicht sehr beunruhigte. Er hatte der Insel nicht nur einen Namen gegeben, sondern bereits damit begonnen, sie zu vermessen. Damit hatte er sich mindestens das gleiche Recht wie seine Eltern erworben, hier bleiben zu dürfen.
    Das Nachmittagsgewitter näherte sich ihm von hinten, aus nördlicher Richtung, während er abstieg. Prabir blickte auf, als die ersten dicken Tropfen ringsum auf die Felsen klatschten, und er sah hell glänzende Perlen aus weißem Licht vor dem Hintergrund der Wolken.
    Dann erhoben sich die Feueradler aus dem Sturm, und der Himmel war nur noch ein eintöniges
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