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Teranesia

Titel: Teranesia
Autoren: Greg Egan
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einem Sturm – das Meer aufpeitschen konnte. Teranesia wurde zwar vor der Gewalt des offenen Ozeans geschützt, doch die großen Inseln, die die Abschirmung bildeten – Timor, Sulawesi, Seram, Neuguinea – waren fern und unsichtbar. Selbst der nächste ähnlich unscheinbare Felsen war zu weit entfernt, um ihn vom Strand aus sehen zu können.
    »In geringer Höhe ist die Entfernung zum Horizont ungefähr gleich der Quadratwurzel aus dem Produkt deiner Höhe über dem Meeresspiegel und dem Erdradius mal zwei.« Prabir stellte sich ein rechtwinkliges Dreieck vor, dessen Scheitel aus dem Erdmittelpunkt, einem Punkt am Horizont und seinen Augen bestand. Er hatte sich diese Funktion von seinem Notepad darstellen lassen und kannte inzwischen viele Punkte der Kurve auswendig. Die Neigung des Strandes war recht stark, sodass sich seine Augen schätzungsweise zwei Meter über dem Meeresspiegel befanden. Das bedeutete, dass er fünf Kilometer weit sehen konnte. Wenn er den Vulkankegel Teranesias bestieg, bis die nächste der benachbarten Tanimbar-Inseln in Sicht kam, konnte er anhand der Höhe, die er dann erreicht hatte – und die er über sein Notepad vom Satelliten-Navigationssystem abfragen konnte –, genau berechnen, wie weit die Inseln entfernt waren.
    Aber er wusste die Entfernung längst von Landkarten: fast achtzig Kilometer. Also konnte er die Formel umdrehen und sie dazu benutzen, um seine Höhe über dem Meeresspiegel zu bestimmen. Der niedrigste Punkt, von dem aus er Land sehen konnte, lag bei fünfhundert Metern. Er würde die Stelle mit einem Stock im Boden markieren. Prabir wandte sich dem Zentrum der Insel zu, dem schwarzen Gipfel, der knapp über die Kokospalmen hinausragte, die den Strand säumten. Es würde bestimmt ein langer Aufstieg werden, vor allem, wenn er Madhusree die meiste Zeit tragen musste.
    »Möchtest du zu Ma?«
    Madhusree verzog das Gesicht. »Nein!« Normalerweise konnte sie nie zu viel von Ma bekommen, aber sie wusste genau, wenn er sie nur abschieben wollte.
    Prabir zuckte die Achseln. Er konnte das Experiment auch noch später durchführen; es lohnte sich nicht, deswegen einen Wutanfall zu riskieren. »Willst du vielleicht schwimmen gehen?« Madhusree nickte begeistert und rappelte sich auf, dann lief sie mit unsicheren Schritten zum Wasser. Prabir ließ ihr ausreichend Vorsprung, dann stürmte er laut grölend über den Sand hinterher. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick über die Schulter zu, fiel hin und stand wieder auf. Prabir lief im Kreis um sie herum, während sie ins seichte Wasser watete. Seine Füße ließen das Wasser aufspritzen, aber er achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, weil es unfair wäre, ihr ins Gesicht zu spritzen. Als sie hüfttief im Meer stand, tauchte sie ein und begann mit regelmäßigen Bewegungen ihrer pummeligen Armchen zu schwimmen.
    Prabir erstarrte und beobachtete sie voller Bewunderung. Es war sinnlos zu leugnen, dass auch er gelegentlich dieses Madhusree-Gefühl verspürte. Die gleiche süße Erregung, die gleiche Zärtlichkeit, der gleiche unverdiente Stolz – all die Regungen, die er auch in den Gesichtern seines Vaters und seiner Mutter beobachtete.
    Er seufzte schwer und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen. Er berührte den Boden, öffnete die Augen, um das Brennen des Salzes zu spüren und eine Weile das verschwommene Sonnenlicht zu betrachten, bevor er sich wieder erhob und sich am ganzen Körper angenehm nass fühlte. Er schüttelte sich die Haarsträhnen aus den Augen und watete dann hinter Madhusree her. Das Wasser reichte ihm bis zu den Rippen, als er sie eingeholt hatte. Dann schwamm er an ihrer Seite weiter.
    »Alles in Ordnung?«
    Es war unter ihrer Würde, ihm darauf eine Antwort zu geben. Stattdessen warf sie ihm wegen dieser indirekten Beleidigung einen bösen Blick zu.
    »Schwimm nicht zu weit hinaus.« Wenn sie allein waren, galt die Regel, dass Prabir noch Boden unter den Füßen haben musste. Es ärgerte ihn ein wenig, aber die Aussicht, eine strampelnde und kreischende Madhusree in Sicherheit bringen zu müssen, war wesentlich unangenehmer.
    Prabir hatte seine Taucherbrille zu Hause gelassen, aber er konnte trotzdem sehr viel im klaren Wasser erkennen, wenn er den Kopf hoch genug emporreckte. Wenn er innehielt, damit der Schaum und die Turbulenzen, die er verursachte, verschwanden, konnte er beinahe die Sandkörner auf dem Meeresgrund zählen. Das Riff lag immer noch hundert Meter voraus, aber unter ihm
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