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Teranesia

Titel: Teranesia
Autoren: Greg Egan
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tolerieren würde. Auf jeden Fall war er völlig zufrieden damit, sein Alter nicht offenbaren zu dürfen, weil er dann nicht so herablassend behandelt wurde.
    Als Prabir zu seinem neunten Geburtstag den Zugang erhalten hatte, war er sofort Mitglied von Diskussionsgruppen zu den Themen Mathematik, indonesische Geschichte und madagassische Musik geworden. Die Beiträge der anderen Mitglieder las er sich aufmerksam durch oder hörte sie ab, bevor er einen eigenen Kommentar abgab, und niemand schien seine Bemerkungen ausgesprochen kindisch zu finden. Manche Leute versahen ihre Beiträge mit Porträtfotos, andere nicht. Es war also nichts Ungewöhnliches, wenn er es nicht tat. Die Gruppen konzentrierten sich streng auf die jeweiligen Themen, und niemandem wäre im Traum eingefallen, sich auf privateres Territorium zu begeben. Die Frage, wie alt er war oder wie er seinen Lebensunterhalt bestritt, wurde einfach nie gestellt.
    Erst als er direkte Nachrichten mit Eleanor austauschte, einer Geschichtswissenschaftlerin, die in New York City lebte, fühlte sich Prabir in die Enge gedrängt. Nach zwei kurzen Beiträgen über das Majapahit-Reich begann Eleanor ihm von ihrer Familie, ihren Studenten, ihren tropischen Fischen zu erzählen. Bald wechselte sie vom reinen Text auf Video und schickte Prabir kleine Filme, die zeigten, wie es in ihrer Wohnung und in Manhattan aussah. All das konnte natürlich gefälscht sein, aber nur mit großem Aufwand, und vermutlich hätte es seinen Vater problemlos überzeugt, dass Eleanor ehrlich und absolut vertrauenswürdig war und Prabir ihr ohne Schwierigkeiten sein wahres Alter verraten konnte. Aber es war bereits zu spät. Prabir hatte auf Eleanors erste Beschreibung ihrer Familie mit einem Bericht seiner Reise von Kalkutta zu einer namenlosen Insel in der Banda-See geantwortet. Er hatte geschrieben, dass er von seiner Frau und seinem kleinen Sohn begleitet wurde und sie hier Schmetterlinge studieren wollten. Diese exotische Geschichte hatte sie sofort begeistert und eine Unmenge von Fragen nach sich gezogen. Prabir hatte es nicht fertig gebracht, ihr die Antworten schuldig zu bleiben, aber er besaß auch nicht genügend Selbstvertrauen, um die komplette Biographie eines Erwachsenen auszuspinnen, ohne sich in Widersprüche zu dem zu verstricken, was er ihr bereits anvertraut hatte. Also schlachtete er weiter das Leben seines Vaters aus, bis es undenkbar geworden war, sowohl Eleanor als auch seinem Vater die Wahrheit zu gestehen.
    Rajendra Suresh war im Alter von sechs Jahren auf den Straßen von Kalkutta ausgesetzt worden. Er hatte sich geweigert, Prabir zu erzählen, woran er sich noch aus seinem früheren Leben erinnerte; also hatte Prabir Eleanor mitgeteilt, dass er gar keine Erinnerungen an seine Vergangenheit hatte. »Ich könnte der Sohn einer Prostituierten oder der verlorene Sprössling einer der reichsten Familien der Stadt sein.«
    »Hätten reiche Eltern nicht längst nach dir gesucht?«, hatte Eleanor gefragt. Worauf Prabir ihr von vagen Träumen berichtet hatte, in denen es um intrigante Onkel und vorgetäuschte, aber verpfuschte Geiselnahmen ging.
    Rajendra hatte die nächsten fünf Jahre als Bettler überlebt, bis er erstmals der Indian Rationalist Association begegnet war. (Prabir war seit frühester Kindheit eingeschärft worden, dass diese Organisation außerhalb der Familie niemals mit den Initialen bezeichnet werden durfte, es sei denn, unmittelbar darauf folgte eine unmissverständliche Erklärung des Sachverhalts.) Für die Unterbringung in einem Waisenhaus waren die finanziellen Mittel zu knapp, aber man hatte ihm zwei kostenlose Mahlzeiten pro Tag und einen Platz im Klassenzimmer angeboten. Das hatte genügt, um ihn vor dem Verhungern zu bewahren und ihn vor den Klauen des ›Mad Albanian‹ zu schützen, dessen Diener die Stadt auf der Jagd nach Kindern und Leprakranken durchstreiften. Prabir hatte Alpträume über den Mad Albanian gehabt – die viel zu schlimm waren, um sie Eleanor anzuvertrauen –, in denen ein buckliges, runzliges Geschöpf ihn durch Gassen und die Kanalisation hetzte und ihm mit einem Lappen, der mit dem Blut eines Lamms getränkt war, die Füße waschen wollte.
    Das erklärte Ziel der IRA bestand darin, das Land von der Verdummung des traditionellen Aberglaubens zu befreien und gleichzeitig die Schranken der Kaste und des Geschlechts niederzureißen, die diesen Unsinn aufrechterhielten. Noch bevor sie ihre sozialen Projekte initiiert hatten –
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