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Tausendschön

Tausendschön

Titel: Tausendschön
Autoren: K Ohlsson
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gegeben, dass er geheimes Wissen besaß? Doch eigentlich glaubte er das nicht. Noch im Moment seines Todes war er überzeugt davon, dass die Katastrophe unmöglich hatte verhindert werden können. Als er den Lauf der Jagdpistole an seiner Schläfe spürte, war ohnehin alles zu spät. Und doch empfand er eine große Trauer darüber, dass sein Leben auf diese Weise endete. Wo er doch immer noch so unendlich viel zu geben gehabt hätte.
    Jakob Ahlbin hatte im Laufe der Jahre mehr Vorträge gehalten, als er zählen konnte, und er wusste, dass er die Gabe, ein guter Redner zu sein, exzellent genutzt hatte. Der Aufbau seiner Vorträge war oft der gleiche gewesen und die Fragen, die folgten, ebenso; nur das Publikum hatte sich geändert. Manchmal waren die Leute hinbeordert worden, manchmal suchten sie ihn spontan auf. Jakob schätzte beides, er fühlte sich in jedem Fall hinter dem Rednerpult wohl.
    Meist begann er damit, dass er Bilder von den Booten zeigte. Zugegeben, ein simpler Trick, dessen man sich jedoch, wie er wohl wusste, nur schwer erwehren konnte. Ein Dutzend Menschen in einem viel zu kleinen Boot, das Tag um Tag, Woche um Woche auf dem Meer dahintreibt, während die Passagiere immer erschöpfter und verzweifelter werden. Und am Horizont die Fata Morgana Europas, wie ein Traum oder eine Fantasie, die für diese Leute doch niemals Wirklichkeit werden sollte.
    » Wir glauben, dieses Phänomen wäre neu«, pflegte er einleitend zu sagen. » Wir glauben, es gehörte zu einem anderen Teil der Welt, während uns so etwas nie passiert ist und nie passieren wird.«
    geklaut von homieray oder fourty9ers (:----
    Dann wechselte diskret das Bild hinter ihm, und eine Europakarte erschien.
    » Aber da greift unser Gedächtnis zu kurz«, seufzte er. » Wir erinnern uns lieber nicht daran, dass es nur ein paar wenige Jahrzehnte her ist, dass Europa in Flammen stand und die Menschen in Panik von einem Land ins nächste flüchteten. Und ebenso vergessen wir, dass vor einem knappen Jahrhundert mehr als eine Million Schweden sich entschieden, ihr Land zu verlassen, um in Amerika neu anzufangen.«
    Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, hielt einen Moment inne und kontrollierte, ob er die volle Aufmerksamkeit des Publikums besaß. Das Bild hinter ihm wechselte erneut, und nun waren da Max von Sydow und Liv Ullmann aus der Verfilmung von Vilhelm Mobergs Auswanderersaga zu sehen.
    » Eine Million Menschen«, wiederholte er mit lauter Stimme. » Glauben Sie ja nicht, dass Karl Oskar und Kristina hier die Reise nach Amerika auch nur einen Augenblick lang als etwas anderes betrachteten als eine Strafe. Glauben Sie ja nicht, dass sie nicht in Schweden geblieben wären, wenn sie nur gekonnt hätten. Überlegen Sie, was es mit sich bringen würde, wenn Sie selbst aufbrechen und Ihr altes Leben hinter sich lassen müssten, um ein neues auf einem anderen Kontinent zu beginnen – ohne einen Cent in der Tasche und nur mit den Habseligkeiten versehen, die in eine erbärmliche, verdammte Reisetasche passen.«
    Der Fluch war bewusst eingesetzt. Ein fluchender Pfarrer hatte immer etwas Unerhörtes.
    Er wusste nur zu gut, wo er mit Widerstand rechnen konnte: manchmal schon in dem Moment, da er das Bild von Karl Oskar und Kristina, den Auswanderern, zeigte; manchmal erst später. An diesem Nachmittag geschah es, nachdem er zum ersten Mal geflucht hatte. Ein junger Kerl aus einer der vorderen Reihen fühlte sich offensichtlich provoziert, und seine Hand schoss hoch, als Jakob eben weiterreden wollte. » Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche«, gellte der junge Mann, » aber dieser Vergleich hinkt doch, zum Teufel!«
    Jakob wusste, was jetzt kommen würde, doch um der Wirkung willen runzelte er die Stirn.
    » Karl Oskar und Kristina und all die anderen Schweden, die nach Amerika gegangen sind, haben dort schließlich geschuftet wie die Tiere. Sie haben dieses verdammte Land überhaupt erst aufgebaut. Sie haben die Sprache gelernt und sich der Kultur angepasst. Sie haben sich Arbeit gesucht und sich selbst versorgt. Die Menschen, die heutzutage nach Schweden kommen, machen nichts in der Art! Sie wohnen in ihren Ghettos und scheißen darauf, Schwedisch zu lernen, leben von der Sozialhilfe und denken nicht daran zu arbeiten.«
    Im Saal wurde es still. Wie ein unguter Geist schwebte Sorge über den Zuschauern: die Sorge, dass es zu einem Eklat kommen könnte, aber auch die Sorge, selbst als jemand entlarvt zu werden, der die Ansichten des jungen Mannes
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