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Taqwacore

Taqwacore

Titel: Taqwacore
Autoren: M Knight
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Lebensgröße heraus; alles an ihm sprach von seiner Überzeugung, die sowohl bewundernswert als auch irritierend war: das schlichte weiße T -Shirt, das sich über zwei dicken Bizepsen und einem Brustkorb breit wie ein Fass spannte, der rasierte Schädel, der Militanz suggerierte, die Rhetorik seiner Tattoos – ein großes schwarzes » X « auf jedem Handrücken, Halbmond mit Stern außen auf dem rechten Unterarm, Mohammeds Name – S allallahu alaihi wa sallam  – auf Arabisch auf dem linken Unterarm, und dann der Höhepunkt, den ich mir immer wieder genau ansah, obwohl ich es vermeiden wollte: Vorne auf seinem Hals, direkt über seiner Kehle stand in grünen Ziffern »2:219«.
    »Assalamu alaikum«, rief ich, während ich wie angeklebt in meinem Sessel saß und Umar die Treppe heraufkam.
    »Bruder Yusef Ali! Wa aleikum assalam. Kayfa halukum, Yakhi?«
    »Ana bikhair«, antwortete ich und erhob mich schwerfällig, um ihm die Hand zu schütteln. Das wenige Arabisch, das ich abgesehen von den religiösen Begriffen konnte, hatte ich von ihm gelernt. Fairerweise muss man hinzufügen, dass er auch etwas Urdu konnte. »Key ali?«, fragte ich.
    »Teek hai, acha.« Er griff in die Tasche seiner Khakihose, zog zwei dünne Siwaks heraus und bot mir einen an. Als ich ihn nahm, bemerkte ich, dass die Haut an seinen Fingerknöcheln abgeschürft war, entschied mich aber dafür, die letzte Nacht nicht anzusprechen. Falls Umar schlechter Laune war, fiel mir das nicht auf. Vielleicht dachte er, zwischen uns bestünde eine spezielle Verbindung, weil wir die Einzigen im Haus waren, die nicht wussten, wie Bier schmeckt. Ich schob mir den Siwak zwischen die Zähne, während er Umar wie eine Zigarette im Mundwinkel hing. Er stand immer da, als warte er darauf, dass jemand hinter einem Baum hervorspringen und sich auf ihn stürzen würde. Ich konnte nicht anders, als auf die 2:219 zu starren und bei dem Gedanken zu schaudern, dass mir mit einer Nadel Tinte in den Hals getrieben würde, aber das war typisch Umar. Er trug seine Kampfspuren wie einen Orden. Unsere Augen trafen sich und ich schaute schnell weg.
    »Hat das wehgetan?«, fragte ich, obwohl wir darüber schon mehrmals gesprochen hatten, nachdem er mich dabei ertappt hatte, wie ich ihn angaffte.
    »Alhamdulillah«, antwortete er und klemmte dabei den Siwak lässig zwischen Zeige- und Mittelfinger, als würde er eine Zigarette halten.
    Dann wurden wir beide von einem schrillen Jaulen aufgeschreckt, dessen Ursprung uns verborgen blieb, weil es so unerwartet kam und so laut war, dass es alles andere übertönte; es klang wie eine Kreatur aus dem Weltraum, wurde höher, bis uns die Ohren wehtaten, und stieg weiter und weiter an, bis es sich schließlich in eine vertraute Melodie verwandelte.
    Es war ein Adhan auf der Elektrogitarre.
    Beim zweiten Allahu Akbar wurde mir klar, dass es vom Dach kam.
    Sofort ging ich hinein, die Treppe hinauf und ins Badezimmer, in dem der barfüßige Amazing Ayyub gerade Wudu im Waschbecken verrichtete. Ich folgte einem gewundenen schwarzen Kabel, das vom Verstärker unten im Flur kommen musste, und kletterte aus dem Fenster hinaus auf das Dach, wo Jehangir Tabari wie eine Statue stand, mit seinem 30 cm langen gelben Irokesen, der dicht und borstig war wie der Helmbusch eines römischen Soldaten, er hielt die Gitarre vor seinen mageren, energiegeladenen Körper. Der andere Iro bestand aus vier oder fünf orangefarbenen Stacheln und gehörte zu einem Indonesier namens Fasiq Abasa, der an der Dachkante saß, mit einem Joint in der Hand und dem Koran auf dem Schoß. Keiner der beiden sah mich. Jehangir erfüllte seine Rolle als Muezzin mit außerordentlichem Ernst. Fasiq nahm noch einen Zug und hielt den Kopf gesenkt, doch ich konnte nicht erkennen, ob er im Koran las oder nur leise den Adhan mitsprach. Ich spürte die Gänsehaut, die der Gebetsruf oft bei mir auslöste, aber Jehangir Tabaris Version rief ein völlig neues Gefühl in mir wach: Eine aufkeimende Hoffnung, ein vibrierendes sechssaitiges Versprechen, dass die glorreichen Zeiten des Islam nicht den Abbasiden und Fatimiden vorbehalten waren, sondern auch für uns im Hier und Heute anbrechen konnten, wenn wir nur den Mut hatten, sie einzufordern.
    Seine Finger verweilten bei dem letzten La ilaha illa Allah , er traf jeden einzelnen Ton, als stünde er auf dem Minarett der Badshahi-Moschee. Wie bei einem traditionell vorgetragenen Adhan klang die letzte Zeile für mich irgendwie traurig,
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