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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin
Autoren: Allmen und die Libellen
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erzählen, dass sie in New York lebe, aber jetzt zu Besuch bei
ihrem Vater sei. Er päpple sie wieder auf nach einer hässlichen Scheidung.
     
    Als Allmen seiner Begleitung an der Garderobe den Mantel
abnahm, stellte sich heraus, dass sie zu Ehren von Madame Butterfly eine Art
Kimono trug.
    »Oh, ein Kimono«, entfuhr es ihm, und er suchte den Boden
ab nach einer Lücke, in der er hätte versinken können.
    »Passt doch zum Thema«, strahlte Joelle und vollführte
eine kleine Pirouette. Der Gong rettete Allmen.
    Sie mochte Ende dreißig sein, keine besonders schöne Frau,
aber das wusste sie geschickt zu verbergen. Die Ponyfransen, die am Haaransatz
etwas auftoupiert waren und bis zur Nasenwurzel fielen, verbargen ihre niedrige
Stirn. Die kleinen engstehenden, aber wunderbar smaragdgrünen Augen waren
durch schwungvolle Lidstriche vergrößert. Sie hatte eine hübsche knabenhafte
Figur und bewegte sich selbst im Gedränge der zu ihren Plätzen strömenden
Premierenbesucher mit tänzerischer Anmut.
    Bereits während der Ouvertüre lag ihre Hand auf Allmens
Oberschenkel. Beim ersten Akt war sie in seinem Schritt angekommen.
     
    Jojo schnarchte. Sie lag auf dem Rücken in ihrem
überdimensionierten Bett, und aus ihren halbgeöffneten, nicht mehr ganz so kirschroten
Lippen drang dieses wenig damenhafte Geräusch.
    So ganz unpassend war es allerdings nicht, fand Allmen.
Sie hatte sich im Laufe des Abends in jeder Hinsicht als wenig damenhaft
erwiesen. Noch nie in seinem Leben - und es war in dieser Beziehung ein
bewegtes gewesen - hatte sich eine Frau mit einem solchen Heißhunger auf ihn
gestürzt wie diese platinblonde Opernbekanntschaft. Im Fond der Limousine,
unter dem Augenpaar des Chauffeurs im Rückspiegel, war es ihm noch gelungen,
die Angriffe von Jojo abzuwehren. Aber als sie die Halle der großen See-Villa
betreten hatten, ließ er sich widerstandslos die breite Freitreppe hinauf- und
in ihr divenhaftes Schlafzimmer schleppen, wie die Beute einer Löwin.
    Dort zog sie gleichzeitig sich und ihn aus, warf sich mit
ihm aufs Bett, verschlang ihn und gab sich ihm hin mit einer ihm bislang
unbekannten Zügellosigkeit.
    Gleich danach war sie in einen bewusstlosen Schlaf
gefallen und hatte kurz darauf zu schnarchen begonnen.
    Allmen lag auf den rechten Arm aufgestützt und betrachtete
sie. Zwar war das Licht durch den rosa Lampenschirm gedämpft, dennoch sah er
jetzt die Spuren eines Lebens mit zu viel Sonne, zu wenig Schlaf, zu viel Spaß
und zu wenig Liebe. Er spürte, dass es ihm ging wie immer in solchen
Situationen: Die Zuneigung, die er sich zuvor eingeredet hatte und ohne die er
nicht mit einer Frau ins Bett gehen konnte, war verflogen. Er studierte die
Fremde neben sich ohne Zärtlichkeit. Und diesmal war es noch etwas schlimmer:
Er fühlte sich von ihr benutzt und nahm es ihr übel.
    Er stand auf und machte sich auf die Suche nach einer
Toilette.
     
    Das Schlafzimmer besaß zwei Türen. Durch die eine waren
sie hereingekommen, dann musste die zweite wohl ins Bad führen. Er öffnete sie,
fand den Schalter und machte Licht.
    Er stand in einem großen schwarzen Marmorbad mit einem
Doppelwaschtisch, einer gläsernen Duschkabine, einem altmodischen
nierenförmigen Jacuzzi und zwei weiteren Türen. Der Waschtisch war übersät mit
Kosmetika, die Spiegelschränke standen offen, dahinter herrschte ein Chaos aus
Tuben, Töpfen, Tiegeln, Fläschchen, Schächtelchen und Medikamentenpackungen.
    Auf einem Badehocker neben der Dusche lag ein feuchtes,
schwarzes Frottiertuch, im Jacuzzi ein weiteres, über dem Wannenrand hingen
Unterwäsche und Kleider. Eine Toilette fand er keine. Sie musste hinter einer
der beiden Türen sein.
    Allmen öffnete die erste aufs Geratewohl. Sie ließ sich
nur halb aufdrücken, ein Möbel stand mit etwas Abstand davor. Er machte Licht
und schlüpfte hinter dem Möbel in den Raum.
    Keine Toilette, sondern ein Zimmer von etwa der gleichen
Größe wie Jojos Schlafzimmer. Es war früher wohl auch eines gewesen und hatte
das Bad mit dem anderen geteilt. Jetzt war es ein Ausstellungsraum.
    Das Licht, das Allmen angeknipst hatte, drang aus
schlichten Glasvitrinen wie jener, die vor der Tür plaziert war. Wie Aquarien
waren sie um einen einsamen Ledersessel gruppiert, vor dem ein kleiner
Glastisch stand.
    Ihr Inhalt bestand aus einer Sammlung von Jugendstilgläsern.
Vasen, Lampen, Schalen. Unverkennbar- sogar für Allmen, der nicht besonders
viel von Jugendstilgläsern verstand - stammten alle aus
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