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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin
Autoren: Allmen und die Libellen
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Wutausbruch eines gewaltbereiten Menschen, einer
Gattung, mit der er bisher kaum je in Berührung gekommen war. Allmen
verachtete jede Form von Gewalt. Auch die verbale.
    Er war ernsthaft beunruhigt. Aber als er eine knappe halbe
Stunde später, wie immer erstaunt und erfrischt, aus seiner Siesta erwachte,
war aus dieser Beunruhigung etwas Leises, Fernes geworden.
     
    Die Erbauer der Villa Schwarzacker, die damals noch Villa
Odeon hieß, hatten das Treibhaus zur Anzucht von Zier- und Nutzpflanzen
verwendet und zur Überwinterung von Topfpalmen und anderem nicht winterfestem
Gartenschmuck. Der Vorbesitzer hatte das Glashaus vernachlässigt und als Schuppen
und Abstellraum benutzt. Aber als Allmen die Villa übernahm, ließ er es wieder
herrichten, denn er züchtete Orchideen. Besser gesagt: Er ließ sie züchten.
    Auf den Geschmack hatte ihn sein Aufenthalt in der
Kolonialvilla seines Freundes in Guatemala gebracht. Auf allen Tischen,
Kommoden, Anrichten, in allen Mauernischen und -vorsprüngen standen sie, immer
frisch, oft betörend duftend - nein, es stimmte nicht, dass Orchideen nicht
duften - und in allen Farben und Größen.
    Es stellte sich heraus, dass der Gärtner Carlos auch der
Orchideenmann des Hauses war, er pflegte sie, vermehrte sie und sorgte dafür,
dass sie zu ihrer Blütezeit in die Villa und danach wieder ins Treibhaus
kamen.
    Als Carlos zum ersten Mal das Treibhaus der Villa
Schwarzacker sah, sagte er in seiner formellen Art: »Don John, eine Anregung,
mehr nicht.« So war die Villa
Schwarzacker zu Allmens Zeiten berühmt geworden für ihren Orchideenschmuck.
    Die Sammlung musste er aufgeben, wie die Villa. Aber Allmen
profitierte dennoch von der Renovierung des Gewächshauses. Vor allem von der
Installation einer zeitgemäßen Gasheizung. Sie sorgte dafür, dass der große,
schlecht isolierte Raum auch im Winter behaglich war. Der Schwedenofen, vor dem
Allmen jetzt saß, war Luxus. Und Luxus eine von Allmens großen Schwächen.
    Auf den Deal mit dem Gärtnerhaus war er stolz. Als er
schließlich auch die Villa Schwarzacker verkaufen musste - er hatte sie so
getauft als Hommage an den Acker, der einst die Grundlage zu seinem ererbten
Vermögen gebildet hatte -, war er auf die Idee gekommen, sie dem Interessenten
zuzuschlagen, der damit einverstanden war, ihm hier ein lebenslängliches
Wohnrecht zu gewähren. Mehrere Interessenten wären darauf eingegangen, aber er
hatte den Zuschlag der Treuhandfirma gegeben, weil ihm die Vorstellung, dass er
nachts und an Wochenenden für sich allein sein würde, gefallen hatte. Und weil
der Firmenchef damit einverstanden gewesen war, ihm den größten Teil der
Bücherwände der Bibliothek zu überlassen. Dieser war froh gewesen über die
zusätzlichen Wände für die Wechselausstellungen, die seine Firma im Rahmen des
Eventmarketings für bestehende und potentielle Kunden veranstaltete.
    Allmen hatte das Taschenbuch beinahe ausgelesen. Ein
neuerer Krimi des inzwischen altersmilde gewordenen großen Elmore Leonard. Eine
Geschichte, die fast nur aus Dialogen bestand und auf die Gewaltszenen seiner
früheren Werke verzichtete.
    Allmen war ein süchtiger Leser. Schon als Leseanfänger
war er das gewesen. Er hatte schnell bemerkt, dass Lesen die einfachste,
wirksamste und schönste Art war, sich seiner Umgebung zu entziehen. Sein
Vater, den er nie mit einem Buch in der Hand gesehen hatte, besaß großen
Respekt vor dieser Leidenschaft seines Sohnes. Immer akzeptierte er Lesen als
Entschuldigung für die vielen Pflichtversäumnisse seines Filius. Und seine
Mutter, die stets kränkelnde und früh verstorbene sanfte Frau, an die Allmen
nur verschwommene Erinnerungen hatte, akzeptierte alle Entschuldigungen, die
ihr Mann akzeptierte.
    Auch heute noch las Allmen alles, was ihm in die Hände
kam. Weltliteratur, Klassiker, Neuerscheinungen, Biographien, Reiseberichte,
Prospekte, Gebrauchsanweisungen. Er war Stammkunde in mehreren Antiquariaten,
und es war schon vorgekommen, dass er ein Taxi beim Sperrmüll vor einem Haus
anhalten ließ und ein paar Bücher von dort mitnahm.
    Allmen musste ein Buch, das er einmal angefangen hatte,
zu Ende lesen, selbst wenn es noch so schlecht war. Er tat dies nicht aus
Respekt dem Autor gegenüber, sondern aus Neugier. Er glaubte, dass jedes Buch
ein Geheimnis habe, und sei es auch nur die Antwort auf die Frage, weshalb es
geschrieben wurde. Hinter dieses Geheimnis musste er kommen. Genau genommen
war Allmen also nicht süchtig nach Lesen
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