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Survive

Survive

Titel: Survive
Autoren: Alex Morel
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Unterarmen. Ich lege meine Hand wie automatisch in seine, ziehe sie aber fast sofort wieder zurück. Seine Hände sind groß und rau von Schwielen.
    »Sie waren mal weicher.«
    »Was?«
    »Meine Hände. Ich merke gerade erst, wie schwielig sie geworden sind.« Er macht eine Kopfbewegung in Richtung meiner weichen, blassen Hände. »Du bist wohl nicht zum Klettern hierhergekommen.«
    Ich funkle ihn wütend an. Er starrt zurück, und wir schauen einander auf eine irgendwie sehr peinliche Art ins Gesicht. In seinen Worten ist eine Beleidigung oder Unterstellung versteckt. Ich habe keine Ahnung, ob er unhöflich sein wollte oder ob er einfach ein Idiot ist, aber ich spüre, dass mir Tränen in die Augen steigen, daher senke ich den Blick.
    »Alles in Ordnung?«, fragt er. »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, versichert er. »Nur eine Beobachtung.«
    Ich habe meine Fassung wiedergewonnen und schaue auf. Er hat dichtes braunes Haar und ein Engelsgesicht, wenn man von den dunklen Stoppeln einmal absieht, die sein Kinn bedecken wie Schmirgelpapier. Ich kann aus seinen ausgestöpselten Ohrhörern das unbarmherzige Hämmern irgendeiner Punkband hören, die wahrscheinlich außer ihm und seinen Snowboardkumpeln niemand kennt. Mich stört, dass er immer noch seine Sonnenbrille trägt.
    »Ich habe gesehen, dass du gebetet hast«, meint er und weicht ein wenig zurück, während er es sich in seinem Sitz bequem macht. Seine Stimme klingt wie Rollsplitt. Wahrscheinlich ist er Raucher. »Ich hoffe, du hast Flügel; sieht ganz so aus, als würde da ein Riesensturm aufziehen.«
    Er lacht ein wenig über seinen eigenen Scherz und nimmt seine Sonnenbrille ab. Seine Augen kommen zum Vorschein. Natürlich sind sie babyblau, wenig überraschend – alle Knalldeppen haben solche Augen. Ich frage mich, ob grundsätzlich alles, was aus seinem Mund kommt, nervig ist oder ob ich im Moment sowieso alles und jeden nervtötend finden würde. Ich komme zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich nur an Paul Hart liegt.
    »Ja. Gott ist tot und so weiter«, sage ich ein wenig abrupter, als es meine Absicht war.
    »Was?«, fragt er. »Ich hab’s nicht verstanden.«
    Ich begreife, dass ich in meinem Kopf ein Gespräch geführt habe, in dem ich Pauls harmloser Bemerkung schon um etwa drei Antworten voraus war. Das passiert mir öfter – ich male mir Gespräche aus, bevor sie geführt werden. Deshalb haben die Leute manchmal große Mühe, mich zu verstehen und ich sie. Aber Paul ist ein helles Köpfchen und begreift schnell.
    »Ich wette, du hast als Hauptfach Philosophie«, sagt er, vielleicht eine klein wenig süffisant. »Schon kapiert.«
    »Ja, woher hast du das gewusst?«, frage ich. Es fällt mir sehr schwer, in so einer Situation nicht zu lügen. Ich fühle mich da einfach sicherer. Ich öffne den Mund, um weiter zu lügen, aber ich bin zu müde und zu nervös, also zwinge ich mich aufzuhören.
    Er sieht mich etwas sonderbar an. »Ich finde, die labern alle nur Scheiße. Sie wissen auch nicht mehr über das Leben als man selbst.«
    Ich mustere für einen Moment sein Gesicht. Ich kann sehen, wo er alt werden wird, wo die Falten von seinen Augenwinkeln ausgehend ihre Schneisen ziehen werden. Ich wette, er ist jemand, der sich ständig Sorgen macht und sich gleichzeitig hinter seiner Fassade versteckt – nach außen der tollkühne Draufgänger, darunter eine zappelnde Masse Angst.
    »Stimmt«, antworte ich, greife nach der Karte mit den Notfallinformationen und studiere sie.
    Er schaut mich eine Sekunde lang an, dann umspielt ein schiefes Lächeln seine Mundwinkel. Er hält mich für eine dumme Tussi. Oder einfach für der Mühe nicht wert. Er schiebt sich seine Stöpsel in die Ohren, setzt seine Sonnenbrille wieder auf und lehnt sich in seinem Sitz zurück.
    Ich stöpsle ebenfalls meine Kopfhörer ein, schließe die Augen und wende mich ab. Ich hoffe, er versucht nicht noch einmal, mir ein Gespräch aufzuzwingen. Ich höre, wie er in seiner Tasche kramt und seinen Sicherheitsgurt zurechtzieht. Es ist eine Menge Show in seinem Gehabe, als probiere er, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich gehe jedoch nicht darauf ein, weniger, weil es Teil meines Plans wäre, sondern weil es einfach meiner Natur entspricht. Angeber stoßen mich ab.
    Die Stimme des Piloten ertönt: »Liebe Fluggäste, ich entschuldige mich für den abrupten Abflug eben, aber die Flugsicherung wollte, dass wir abheben, bevor die Startbahn einschneit. Uns steht ein kleiner Sturm bevor,
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