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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker
Autoren: Friedrich Ani
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sagt Frau Schuster.«
    »Ein Mann. Er wollte wissen, ob Sie hier wohnen. Was hätt ich lügen sollen, er hat Ihren Namen an der Tür gelesen.«
    »Wissen Sie seinen Namen?«
    »Bevor ich danach fragen konnte, war er wieder weg. Er hatte eine blaue Jacke an und seine Haare…« Sie betrachtete meinen Kopf und schien sich sogleich für diesen Blick zu genieren. »Die waren… ungekämmt, also… Und er hatte einen Ohrring.«
    »Danke, Frau Rinser«, sagte ich.
    »Kennen Sie den Mann?«
    »Vermutlich.«
    »Also keinen Tee?«
    Gerade als ich mich umdrehte, um in den dritten Stock zu meiner Wohnung hinaufzugehen, tauchte der Kopf eines Mannes hinter Frau Rinser auf. Hastig schloss sie die Tür. Wer sollte der Besucher, von dem die Frauen erzählten, gewesen sein, wenn nicht Jeremias Holzapfel? Aber woher wusste er, wo ich wohnte? Über die Telefonauskunft war meine Adresse nicht zu erfahren. Genauso wenig über das Dezernat.
    Was wollte er von mir? Seine Geschichte noch einmal erzählen?
    Sollte er morgen wieder auftauchen, wäre ich gezwungen etwas zu unternehmen. Im schlimmsten Fall müssten meine Kollegen ihn zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik bringen.
    Ich wollte jetzt nicht weiter an ihn denken.
    Auf meinem Anrufbeantworter war eine Nachricht von Martin Heuer. Er sagte, er komme erst morgen Früh aus Berlin zurück und wolle sich mit mir zum Frühstück treffen. Es beruhigte mich, dass er sich gemeldet hatte. Ich hatte Angst gehabt, er könnte wieder zu lange in den falschen Gegenden unterwegs gewesen sein und nicht mehr herausgefunden haben.
    Ausnahmsweise war ich froh über meinen Anrufbeantworter. Den hatten mir meine Kollegen in diesem Jahr zum Geburtstag geschenkt, weil sie der Meinung waren, ohne ein solches Gerät sei man nicht kommunikationsfähig. Ich teile diese Auffassung nicht im geringsten. Unweigerlich fürchtete ich, sie würden mir zum nächsten Geburtstag ein Handy schenken. Außer Martin war ich der einzige Polizist im Dezernat 11, der noch keines besaß. Ich fand, ich war erreichbar genug.
    »Wieso bist du erst heute gekommen?«, fragte ich. Er sagte: »Ich hab das Flugzeug verpasst.«
    Weiter brauchte er mir nichts zu erklären, ich sah ihm an, warum er das Flugzeug verpasst hatte. Seine Tränensäcke waren dick und grau, seine Knollennase schien bläuliche Risse zu haben, und das Nest seiner spärlichen Haare klebte ihm schweißnass auf dem Kopf. Sein Gesicht wirkte ausgebleicht und alt. Dabei war er ein Jahr jünger als ich.
    Wenn meine Nachbarin Frau Schuster von ihm sagen würde, er wirke nicht wie ein Polizist, dann würde ich ihr zustimmen.
    Es fiel Martin schwer, die Augen offen zu halten, und wenn er es schaffte, mich länger als fünf Sekunden anzusehen, klappten seine Lider automatisch nach unten. Er bemühte sich, weniger zu rauchen, aber seine Hand lag ständig auf der grünen Salem-Schachtel.
    Eine Zeit lang saßen wir da und schwiegen. Wir hatten uns dort verabredet, wo wir uns immer trafen, wenn er oder ich oder wir beide auf dem Weg zur Arbeit waren oder vom Dezernat kamen: im Bistro des Hauptbahnhofs. Es ist ein Durchgangslokal mit einer Küche in der Mitte und einem Tresen drum herum, ein Aufenthaltsort für Leute, die mehr oder weniger im Bahnhof wohnen, und solche, die unterwegs sind und keine Zeit haben, ein anderes, gemütlicheres, weniger verrauchtes Restaurant zu suchen.
    Ich hatte Kaffee und Wasser bestellt, Martin einen schwarzen Tee mit Milch.
    »Und wo ist der Junge jetzt?«, fragte ich, bevor Martin womöglich einschlief.
    Nach der Landung hatte er am Flughafen ein Taxi genommen, in seiner Wohnung die Reisetasche abgestellt, um dann mit demselben Taxi zum Bahnhof zu fahren. Es war ihm egal, wie er aussah und ob seine Kleidung schlecht roch. Zuerst wollte er »frühstücken«, wie er sich ausdrückte, dann in aller Kürze seinen Bericht tippen und sich anschließend hinlegen und erst morgen Früh wieder aufstehen.
    Leider kannte ich ihn zu gut um zu wissen, dass er nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern zu Lilo gehen würde, einer sechsundfünfzigjährigen Prostituierten, die er in gewisser Weise liebte und die ihn in gewisser Weise liebte.
    »Der Junge ist bei seinen Eltern«, sagte Martin und steckte sich eine Zigarette an. Seit mindestens zehn Minuten hatte er nicht geraucht. »Sie geben ihm Hausarrest, das Übliche. Seine Schwester wird sich irgendwo am Alexanderplatz rumtreiben, wie gesagt, sie war schneller als wir…«
    Er sog den Rauch ein,
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