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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker
Autoren: Friedrich Ani
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Laufe des Tages meldete er sich dann fünf weitere Male, was Thon schließlich derart aus der Ruhe brachte, dass er Holzapfel beschimpfte und ihm riet, zum Arzt zu gehen. Danach wartete Holzapfel bis kurz vor sieben Uhr abends, ehe er wieder anrief. Thon war schon gegangen und so landete er bei Sonja Feyerabend, die ihm geduldig zuhörte. Wie Thon konnte sie es nicht ausstehen, wenn Leute ihr mit ihrem Gerede die Zeit raubten. Im Gegensatz zu ihm jedoch war sie empfänglich für Stimmen. Gefiel ihr eine Stimme, entwickelte sie enorme Geduld, die in krassem Gegensatz zu ihrer sonstigen Ungeduld gegenüber Menschen stand, die nicht wussten, was sie wollten.
    Und Jeremias Holzapfel zählte zu denjenigen, die nicht im Mindesten wussten, was sie wollten.
    Das jedenfalls war Sonjas Meinung, als sie mich heute Nacht anrief und mir die Einzelheiten berichtete. Sie fragte mich, ob ich bereit sei, mit dem Mann zu sprechen, und ich sagte Nein.
    Natürlich schaffte sie es mich zu überreden. Allerdings stellte ich die Bedingung, dass ich das Dezernat nicht zu betreten brauchte.
    Ich hatte Urlaub. Resturlaub. Von insgesamt achtundsiebzig freien Tagen, die sich im Lauf eines Jahres angesammelt hatten, wollte ich einundzwanzig in diesem September nehmen. Und auch wenn ich nicht vorhatte zu verreisen und auch sonst nichts Spezielles oder Wichtiges geplant hatte, kam es für mich nicht in Frage, auch nur einen Fuß in mein Büro zu setzen, noch dazu wegen einer Vermissung, die keine war.
    Mit Worten, die sie mir nicht verriet, überzeugte Sonja Jeremias Holzapfel sich mit mir im Hauptbahnhof zu treffen, gegenüber dem Dezernat 11. Der Mann brauchte also nur über die Straße zu gehen, bevor er noch einmal auf die Idee kam, im vierten Stock zu klingeln.
    Dank Sonjas Beschreibung hatte ich ihn schon von weitem erkannt. Er hatte graues struppiges Haar und trug ein hellbraunes, ausgewaschenes Hemd unter einem blassblauen Blouson und Wildlederschuhe ohne Socken. An seinem linken Ohr baumelte ein kleiner goldener Ring. Holzapfel hinkte und wankte ein wenig, auf den ersten Blick hätte man meinen können, er sei angetrunken und habe seit Tagen kein Bett gesehen.
    Dann, als er wenige Meter vor mir stand, ohne dass ich ihn schon begrüßt hatte, fielen mir sein seltsamer Blick auf und die Art, wie er den Mund bewegte. Er schob die Kiefer hin und her, rieb die Lippen aufeinander wie manche Frauen, wenn sie neuen Lippenstift aufgetragen haben, und blickte starr in die Ferne, als konzentriere er sich auf einen bestimmten Punkt.
    Ich nannte meinen Namen. Er sah mich an, zumindest wandte er mir den Kopf zu, und streckte mir die Hand hin.
    »Sie können mir helfen«, sagte er.
    Und ich sagte: »Eigentlich habe ich Urlaub.«
    »Urlaub sehr gut«, sagte er, und seine Blicke huschten an mir vorbei oder durch mich hindurch oder beides zur gleichen Zeit.
    »Meine Frau war damals sogar im Fernsehen wegen mir«, sagte Holzapfel. Er trank seinen dritten Kaffee, alle schwarz, was ich bewunderte, da das Getränk, das an diesem Kiosk vor den Gleisen ausgeschenkt wurde, ungesüßt und milchlos praktisch ungenießbar war. Doch Holzapfel verzog keine Miene. Er leckte sich die Lippen und drehte den Pappbecher in den Händen, als würde er sich genüsslich daran wärmen. Dabei lief ihm der Schweiß noch immer übers Gesicht.
    »Woher wissen Sie das?«, fragte ich. Ich trank schwarzen Tee mit Milch, der nach nichts schmeckte, vielleicht nach Pappe.
    »Ich hab sie gesehen.«
    »Wo haben Sie Ihre Frau gesehen?«
    »Im Hotel.«
    »In welchem Hotel?«
    »Im Hotel Post in Österreich.«
    »Wo in Österreich?«
    »In Salzburg.«
    »Sie fuhren also von München nach Salzburg an diesem Tag…«
    »Am vierzehnten Februar«, sagte er schnell. Wieder starrte er auf etwas hinter mir. Ich drehte mich um. Da war nichts Ungewöhnliches. Leute mit und ohne Koffer eilten durch die Halle, an den Ständen kauften Reisende belegte Semmeln und Getränke, an der Metalltreppe, die zur Balustrade hinaufführte, hatte ein Verkäufer einen langen Tisch mit hunderten von Uhren aufgestellt, zwei Bahnpolizisten gingen mit einem Schäferhund Streife.
    Ich folgte Holzapfels Blick, aber es war mir nicht möglich zu erkennen, was ihn faszinierte. Auf mein Umschauen reagierte er nicht. Vielleicht stand er unter Drogen. Auch wenn ich da meine Zweifel hatte. Wie er redete, wie er die Hände hielt, wie er nachdachte, wirkte er nicht abwesend oder unsicher, sein Gesicht war leicht gebräunt, er hatte
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