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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker
Autoren: Friedrich Ani
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keine Augenringe und wenn er trank, zitterte seine Hand nicht.
    Allerdings schwankte er gelegentlich, wie am Anfang, als er auf mich zugekommen war. Ob dieses sanfte Hin und Her seines Oberkörpers von chemischen Substanzen oder Medikamenten ausgelöst wurde, war allerdings unmöglich zu beurteilen. Und Sonja hatte Recht: Der Klang seiner Stimme war klar und angenehm, manchmal hörte er sich an wie jemand, der eine Sprechausbildung absolviert hatte, selten verhaspelte er sich und wenn er sich korrigieren musste, setzte er in der gleichen Tonlage an wie zuvor. Als achte er darauf, dass ein Techniker den Tonschnitt so unauffällig wie möglich hinbekam. Herauszufinden, ob der Mann früher beim Rundfunk oder Fernsehen gearbeitet hatte, würde nicht schwierig sein. Viel komplizierter erschien mir die Frage, was er mit seiner Vorstellung bezweckte und wieso er beharrlich damit weitermachte?
    Was zu der Frage führte, wieso ich mich weiter damit beschäftigte und nicht nach einer halben Stunde zu ihm sagte, er möge sich ein anderes Publikum für seine Geschichte suchen, rund um den Bahnhof gebe es garantiert eine Menge Zuhörer, die sonst nichts zu tun hätten.
    Genau wie ich. Und genau das waren Sonjas Worte gewesen: »Sie haben doch nichts zu tun, hören Sie ihn sich wenigstens mal an!«
    Woher wollte sie wissen, dass ich nichts zu tun hatte?
    Und bedeutete, nur weil ich nichts tat, dass ich auch nichts zu tun hatte?
    Ich war kein Verreiser, meine Form des Urlaubs bestand darin, nicht ins Büro zu gehen, nicht auf die Uhr zu schauen, nicht zu telefonieren, still zu sein. Ich übte Schweigen. War das Nichtstun?
    »Meine Frau hat mich als vermisst gemeldet.«
    Diesmal sah mir Holzapfel direkt ins Gesicht. Jedenfalls kam es mir so vor.
    »Wo ist Ihre Frau jetzt?«, fragte ich.
    »Zu Hause.«
    »Auf der Theresienhöhe?«
    »Wo?«
    Jetzt schaute ich ihm direkt ins Gesicht.
    »Wohnen Sie nicht Theresienhöhe 6 c?«
    »Das ist möglich«, sagte er.
    Ich schwieg. Ein älteres Ehepaar stellte sich neben uns, sie mit einem großen Pappbecher voll heißer Milch, er mit einem Kaffee. Auf einem Gepäckkuli hatten sie ihre Koffer gestapelt.
    »Hoffentlich hat der Zug nicht Verspätung«, sagte die Frau.
    »Der Zug hat immer Verspätung«, sagte der Mann.
    »Hoffentlich nicht.«
    »Wenn wir den Anschluss verpassen, gibts Ärger«, sagte der Mann.
    »Wir haben noch nie einen Anschluss verpasst«, sagte die Frau.
    »Weil ich immer schon vorher Ärger gemacht habe.«
    Als sie losgingen, hakte sich die Frau bei ihrem Mann unter und er schob den Kuli zum Gleis. Sein Gang war aufrecht und entschlossen.
    »Sie hat eine Anzeige aufgegeben«, sagte Jeremias Holzapfel wieder.
    »Ja«, sagte ich. Wir drehten uns im Kreis. Oder wir drangen immer tiefer in den Tunnel ein, in den uns dieser Mann seit seinem ersten Auftauchen hineinzog.
    »Und ich bin gekommen, um zu sagen, dass man mich nicht länger suchen muss. Können Sie das veranlassen, Herr Süden? Es ist mir… Ich möchte, dass die Dinge geregelt sind und die Polizei nicht nötiger… und die Polizei nicht unnötig Aufwand mit meiner Person hat. Ich bin hier, und die Sache ist damit erledigt.«
    »Wo waren Sie vier Jahre lang?«
    Darüber hatte er noch kein Wort verloren. Sowohl Thon als auch Weber und Sonja hatten ihn danach gefragt und er hatte ihnen keine Antwort gegeben. Sonja sagte mir am Telefon, es sei gewesen, als habe er die Frage überhört oder nicht verstanden.
    »Jetzt bin ich wieder da«, sagte er.
    »Wo waren Sie?« Ich warf meinen Becher in den Abfalleimer und krempelte die Ärmel meines weißen Hemdes runter. Dann strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und legte die Hand auf meinen Bauch. Ich hatte Hunger. Und ich hatte das Bedürfnis allein zu essen.
    »Ich möchte dabei sein, wenn Sie meine Akte vernichten«, sagte er.
    »Warum?«
    »Bitte?«
    Endlich schien er direkt auf eine Frage zu reagieren.
    »Warum wollen Sie dabei sein, wenn ich Ihre Akte vernichte?«
    »Ich möchte nicht, dass meine Angehörigen weiterhin Schwierigkeiten wegen mir kriegen.«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Ich habe sie lange allein gelassen, bin ihnen… Ich konnte ihnen bei meiner Abreise keine Erklärung geben, das war nicht möglich…«
    »Warum war das nicht möglich?«
    »Ich hab mir von einem Streifenbeamten den Weg zur Vermisstenstelle erklären lassen.« Ich kam nicht näher an ihn heran.
    »Ich werde Sie jetzt hier stehen lassen«, sagte ich. »Und ich bitte Sie, meine Kollegen nicht mehr
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