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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker
Autoren: Friedrich Ani
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vor, zog die Stirn in Falten, blickte verdrossen drein. »Mit Freiheit, mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten…« Er holte Luft, warf den Kopf hin und her, keuchte. »Ich habe mich… ich habe mich in die Büsche geschlagen… Ich hatte keinen anderen Weg… keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, dass nicht die Freiheit zu wählen war…«
    Was er da sagte, was er deklamierte, war aus einer Geschichte, die ich vor langer Zeit gelesen hatte, und ich erinnerte mich, dass es immer wieder Schauspieler gegeben hatte, die den Text für die Bühne bearbeitet hatten.
    »Wo haben Sie das gespielt?«, fragte ich.
    Und er kicherte wieder. »Wo? Überall! Immer doch! Doch überall doch immer überall! Das ist doch logisch. Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden.«
    »Ja«, sagte ich.
    Er verfiel in ein Schweigen, das von einem Rasseln aus seiner Brust begleitet wurde.
    »Meine Affengeschichte geht anders«, sagte ich. Er reagierte nicht.
    »Wissenschaftler«, sagte ich, das Gesicht ihm zugewandt, während er aus dem Fenster sah, »haben jahrelang Affenkolonien auf den japanischen Inseln beobachtet. Und dann legte einer der Wissenschaftler eines Tages Süßkartoffeln an den Strand. Und tatsächlich holte sich ein Affe eine Kartoffel und aß sie. Dann kam ein ganz junger Affe daher, nahm eine der Kartoffeln, die dort lagen, und wusch sie im Meer.«
    Holzapfel hob den Kopf.
    »Er wusch sie, weil sie ihm dann wahrscheinlich besser schmeckte. Außerdem wurde sie bei der Gelegenheit gesalzen.«
    »Das stimmt!«, sagte Holzapfel. »Das stimmt aber!«
    »Ja«, sagte ich. »Und nach und nach wuschen immer mehr Affen ihre Kartoffeln, bis sie es schließlich alle taten. Alle Affen wuschen ihre Kartoffeln.«
    »Hihi«, machte Holzapfel.
    »Aber das Unglaubliche war, so behaupten Wissenschaftler, dass auch auf den anderen Inseln die Affen anfingen, ihre Kartoffeln vor dem Fressen im Meer zu waschen. Obwohl diese Inseln nicht miteinander verbunden sind!«
    Holzapfel leckte sich die Lippen und legte die Dose an sein Ohr, als lausche er einem Klang.
    »Und seither fressen alle Affen auf den japanischen Inseln gewaschene Kartoffeln. Den einen Affen aber, den jungen, mit dem alles begonnen hat, den nannte einer der Forscher den ›hundertsten Affen‹, seiner Meinung nach war dieses Tier der Beginn einer elementaren Veränderung. Wenn wir also aufhören, meinte dieser Wissenschaftler, an den ›hundertsten Affen‹ zu glauben, geben wir die Hoffnung auf, dass sich jemals was ändern kann mit uns.«
    Ruckartig stand er auf.
    »Ich muss sofort aussteigen! Sofort!«, rief er.
    Also stiegen wir in der Nähe der Friedenheimer Brücke aus der Straßenbahn.
    Holzapfel, die Tasche unter den Arm geklemmt, fing an im Kreis zu laufen, er ging um ein Wartehäuschen herum, erst in die eine Richtung, dann in die andere, stierte vor sich hin und achtete auf niemanden.
    Dann blieb er genau vor mir stehen und sah mir in die Augen.
    »Hoch lebe die Wissenschaft!«, sagte er ernst. »Aber wird mich das retten? Ich hab keine Freiheit mehr, die ist verbraucht. Ich beklag mich doch nicht, nein.«
    »Nein«, sagte ich. Und da er so nah vor mir stand und offensichtlich in der Lage war, mich wahrzunehmen, sagte ich: »Ich glaube nicht, dass Sie Ihre Freundin Inge mit Tabletten und Alkohol vergiftet haben. Ich glaube es nicht. Ich glaube, Inge war schon tot, als Sie in die Wohnung kamen, und von da an kam Ihnen die Wirklichkeit abhanden.«
    Er sagte nichts.
    Eine Straßenbahn hielt. Leute drängten sich an uns vorbei. Ich bemerkte, wie der Fahrer den Mann in dem gelben Anorak lange betrachtete. Dann holte er ein Mobiltelefon heraus und tippte eine Nummer.
    Wenn ich noch etwas erfahren wollte, musste ich mich beeilen.
    »Können Sie mir bitte Geld für Zigaretten leihen?«, sagte ich.
    Er war verwirrt.
    »Bitte«, sagte ich. »Ich hab kein Geld dabei. Ich muss aber jetzt rauchen.«
    Zögernd griff er nach dem Geldbeutel in seiner Hosentasche. Und gerade, als er das Portmonee öffnen wollte, riss ich es ihm aus der Hand. In einem Seitenfach steckte ein klein zusammengefaltetes Blatt, das ich herausnahm.
    »Entschuldigung«, sagte ich und gab ihm den Geldbeutel zurück. Er nahm ihn, hatte aber nur Blicke für das Blatt in meiner Hand. Ich faltete es auseinander. Es war ein
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