Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
schlaf ich nicht!«
    Wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Nach meinen und den Beobachtungen der Kollegen vom Hundertzwölfer gab es keine Hinweise darauf, dass eine zweite Person im Bett gelegen hatte.
    Mit dem Rücken zu mir presste er die Hände gegen die Glasscheibe, und für einen Moment sah ich mich selbst so dastehen, nicht vor einem Fenster, sondern vor einer Wand, und die Wand war stärker als ich, und ich musste raus, raus aus meiner Wohnung.
    »Wir gehen!«, sagte ich und stand auf.
    Holzapfel fuhr herum. »Nein! Ich wohn hier, ich bleib da. Sie gehen, ich nicht.«
    »Sie kommen mit!«
    »Nein!«
    Ich kam auf ihn zu. Er duckte sich.
    »Wo ist Ihre Jacke?«, fragte ich.
    »Hab keine Jacke, ohne Jacke hier!«
    »Sie haben einen Anorak von Esther mitgenommen«, sagte ich.
    Er wand sich an mir vorbei und ging in den Flur. An einem Haken hing der Friesennerz. Auf dem Boden stand eine schwarze Einkaufstasche. Als Holzapfel sich nach ihr bückte, rutschte ihm sein Geldbeutel aus der Hosentasche. Rasch steckte er ihn wieder ein. Der ebenso schnelle Blick, den er in meine Richtung warf, war mir nicht entgangen.
    Er zog den Anorak an. »Jetzt Verhaftung?«, sagte er.
    »Nein«, sagte ich. »Spaziergang.«
    Er starrte mich an, wie schon oft, und ich machte die Tür auf.
    »Los jetzt!«, sagte ich.
    Silvia Bast ging im Flur auf und ab.
    »Sie können in Ihre Wohnung zurück«, sagte ich. »Auf dem Teppich sind Flecke, die Reinigung bezahlt meine Haftpflichtversicherung. Wollen Sie gegen Herrn Holzapfel Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Freiheitsberaubung erstatten? Und wegen Körperverletzung?«
    Sie sah ihn an. »Vielleicht…«, sagte sie zögernd. »Wie macht man das?«
    »Sie kommen ins Dezernat 11, dort erledigen meine Kollegen die Sache.«
    »Gut«, sagte sie. »Was machen Sie mit ihm?«
    »Ich nehme ihn mit«, sagte ich.
    Holzapfel schaute die ganze Zeit zu Boden.
    »Soll ich jemanden zu Ihnen schicken?«, sagte ich. »Meine Kollegen können Sie abholen.«
    »Nein«, sagte sie. Noch einmal musterte sie Holzapfel.
    »Er… er hat mir eigentlich nichts getan, nur eingesperrt hat er mich. Warum? Warum haben Sie das gemacht?« Holzapfel sah sie nicht an.
    »Er ist krank«, sagte ich.
    »Ich bin nicht krank!«, schrie er. Erschrocken wich Silvia zurück.
    »Ich melde mich später bei Ihnen«, sagte ich.
    »Sie müssen mir ziemlich viel erklären«, sagte sie.
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
    »Versuchen müssen Sie es.«
    »Ja«, sagte ich.
    Ich schob Holzapfel durch die geöffnete Tür.
    Bevor wir im Erdgeschoß in die Durchgangshalle neben dem Kaufhaus traten, hielt ich ihn am Arm fest.
    »Sie sind krank«, sagte ich. »Und ich bringe Sie zu einem Arzt. Und danach gehen wir ins Dezernat, dort werden Sie schon erwartet.«
    »Von wem?«, fragte er.
    »Und unterwegs sprechen Sie mit mir, einverstanden?«
    »Ich will nicht gehen, meine Füße tun mir weh, kaputt sind die.«
    »Wir gehen nicht«, sagte ich. »Wir fahren.«
    Eine Viertelstunde später saßen wir in der Linie 19 und fuhren durch die Innenstadt.
    In seinem Friesennerz, mit der schwarzen Tasche auf den Knien, den Kopf ans Fenster gelehnt, bot Jeremias Holzapfel alles andere als den lustigen Anblick, den Esther vermutet hatte.
    Außerhalb seiner inneren Welt existierte noch immer wenig. Auch wenn ich den Eindruck hatte, dass seine Erinnerung zurückkehrte und er langsam wieder fähig war, die Dinge zu ordnen. Gleichzeitig aber schien er weiter ein Gefangener jener Welt zu bleiben, die er selbst erschaffen hatte, die er beschwor, als fürchte er unbewusst, für immer aus seinem Zimmerland verjagt worden zu sein.
    Während wir über die Maximiliansbrücke fuhren, holte er aus der schwarzen Tasche einen Sixpack Bier, riss eine Dose aus der Verpackung und steckte die anderen wieder in die Tasche. Mir bot er nichts an.
    Jeremias Holzapfel trank Bier und schaute aus dem Fenster.
    Wir schwiegen. Eng aneinander gedrückt saßen wir auf den schmalen Sitzen und dennoch jeder für sich. Ich hatte keinen Plan. Ich hatte gedacht, dass er in der Straßenbahn vielleicht eine Ruhe empfand wie sonst kaum an einem Ort. Und dass er mir hier die Wahrheit darüber sagen würde, was am vergangenen Dienstag, dem einunddreißigsten August, in der Wohnung in der Wörthstraße wirklich geschehen war.
    Ohne einen Blick durch das gegenüberliegende Fenster der Tram zu werfen, wo er das Haus, in dem Inge Hrubesch gestorben war, hätte sehen können, trank er gierig die Dose
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher