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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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näher zu kommen.
    »Haben Sie Herrn Horch angerufen?«
    Wieder vergingen viele Augenblicke. »Ich hab geweint«, sagte sie mit fester Stimme, zum Boden hin.
    »Das war die erste Nacht, in der Ihr Mann nicht nach Hause gekommen ist.«
    »Die erste Nacht, in der wir nicht zusammen waren.«
    »Seit wie lange?«
    Sie sah mich an und lächelte wie zur Begrüßung an der Tür. »Seit mindestens achtundzwanzig Jahren.«
    »Seit Sie verheiratet sind«, sagte ich.
    »Wir haben auch das Jahr davor schon viele Nächte zusammen verbracht.«
    »Was war Ihre erste Vermutung, Frau Korbinian?«, sagte ich.
    Ich hatte erwartet, dass sie den Kopf zur Seite drehte. Sie schaute zu dem kleinen Bild mit dem Bierkrug. Da keine Stelle an den Wänden frei war, lehnte ich mich an die geschlossene Tür zum Nebenzimmer und schloss die Augen, die Hände auf dem Rücken.
    Ich bemühte mich, an nichts Schlimmes zu denken, mit größter Anstrengung trieb ich den Gedanken zurück, dass ein Mann, der achtundzwanzig Jahre lang neben seiner Frau einschlief, der ein bis in den letzten Winkel überprüfbares Leben führte und dann eines Nachts fortblieb, aller Wahrscheinlichkeit nach eine Dummheit begangen hatte und dafür, auf welch tragische Weise auch immer, die Konsequenzen ziehen musste. Natürlich bestand die Möglichkeit eines Unfalls, allerdings hatte Freya Epp routinemäßig sämtliche Krankenhäuser, private Kliniken und Rettungsleitstellen angerufen, nicht nur innerhalb der Stadt, auch im Umkreis von dreißig Kilometern, und nirgendwo war ein Mann, auf den die Beschreibung Korbinians gepasst hätte, registriert. Natürlich konnte er irgendwo liegen, unfähig, sich selbst zu helfen, natürlich konnte er sich, aus Gründen, die niemand von uns kannte oder erahnte, irgendwo verstecken, natürlich konnte er jemandem begegnet sein, der ihn irgendwohin mitgenommen hatte, natürlich konnte er noch am Leben sein.
    Ich zwang mich zu denken, dass Cölestin Korbinian noch am Leben war.
    Ich zwang mich zu vergessen, dass ich in den zwölf Jahren auf der Vermisstenstelle bisher keinen auch nur annähernd vergleichbaren Fall zu bearbeiten hatte – immer, immer, immer endeten ähnliche Vermissungen mit der Totauffindung des Gesuchten.
    Ich zwang mich, die Zahl achtundzwanzig zu vergessen. Ich zwang mich zu denken, Cölestin Korbinian habe sich nur verlaufen, so lächerlich dieser Gedanke auch sein mochte. Ich dachte: Er hat sich verlaufen und in der nächsten Nacht wird er seiner Frau keinen Grund mehr geben zu weinen.
    »Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben…«, sagte Olga Korbinian.
    Ich öffnete die Augen.
    »Aber ich bin sicher, er hat eine Geliebte.«
    Und wieder lächelte sie, als habe sie ein heiteres Empfinden.

3
    S ie hatte Recht: Ich glaubte ihr nicht. Und ich verstand ihr Lächeln nicht, das nicht endete, solange sie stumm am Tisch saß und wie vorhin mit dem Zeigefinger über die Decke strich. Woher hätte ein Mann wie Korbinian eine Geliebte zaubern sollen? War es denkbar, dass er eine Kundin näher kennen gelernt hatte? Hatte ihm Magnus Horch, sein langjähriger Kollege, eine Bekannte vorgestellt? Und wann hätte das alles passiert sein sollen? Und wie hätte er es schaffen sollen, seine Treffen zu verheimlichen, sie überhaupt in seinen Stundenplan einzubauen, ohne dass Olga Verdacht schöpfte? Gegenüber Freya Epp hatte sie das Gegenteil behauptet, und nach allem, was sie mir erzählt hatte, deutete nichts auf Unregelmäßigkeiten im Tagesablauf ihres Mannes hin.
    Trotzdem musste etwas geschehen sein, etwas, das unweigerlich zu seinem Verschwinden führte, etwas, das nicht mehr zu ändern war, etwas, das Korbinian veranlasst hatte, seine heiligen Gewohnheiten zu verdammen.
    Andernfalls war geschehen, woran ich nicht denken wollte. Ich ging näher zum Tisch und stellte mich vor Olga Korbinian.
    »Kennen Sie den Namen der Geliebten?«, sagte ich.
    »Nein«, sagte sie sofort.
    »Seit wann, glauben Sie, hat Ihr Mann eine Geliebte?« Sie zuckte mit den Achseln.
    »Haben Sie ihn darauf angesprochen?« Sie antwortete nicht.
    »Wo hat er sie kennen gelernt?«, sagte ich.
    »Im Biergarten«, sagte sie schnell.
    »In welchem Biergarten?«
    Zum zweiten Mal wölbte sie die Hand am Mund, als wolle sie jemandem etwas zuflüstern. Ich nahm das Glas und trank einen Schluck Wasser.
    »Seit wann haben Sie den Verdacht, Frau Korbinian?«
    »Seit gestern«, sagte sie.
    »Wie sind Sie darauf gekommen?«
    Sie nahm die Hand vom Mund. »Er hat seinen
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