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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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Schwierigkeiten. Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischdecke, strich darüber, als habe die gestickte Decke sich verschoben, und hielt die Hand vor den Mund, allerdings nicht flach, sondern seitwärts gewölbt wie jemand, der einem anderen etwas zuflüstern möchte.
    Minuten vergingen, bevor sie den Kopf in meine Richtung hob.
    »Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie.
    Ich nickte. Und ein Schweißtropfen fiel von meiner Stirn auf den Teppich. Ich trug ein weißes Hemd, dessen Knöpfe mit Ausnahme des obersten geschlossen waren und dessen Ärmel ich nicht hochgekrempelt hatte, eines meiner Baumwollhemden, weiß und weit geschnitten und auch bei großer Hitze fleckenlos. Dagegen passte ich nicht mehr hundertprozentig in die an den Seiten geschnürte, schwarze Hose aus Ziegenleder, von der ich zwei Exemplare besaß, beide in der gleichen Größe. Bei einer Körpergröße von einem Meter achtundsiebzig und einem Gewicht von achtzig Kilogramm hätte ich entweder abnehmen oder noch wachsen müssen, so oder so eine kindische Vorstellung.
    »Möchten Sie ein Glas Wasser?«, sagte Olga Korbinian.
    »Ja«, sagte ich.
    Als sie mit einer Flasche Mineralwasser und einem großen Glas zurückkam, sagte ich: »Haben Sie noch mal mit Magnus Horch gesprochen?«
    Sie goss das Glas voll und gab es mir. Ich trank einen Schluck und stellte es auf den Tisch. Sie behielt die Flasche in den Händen.
    »Danke«, sagte ich.
    Aus irgendeinem Grund schüttelte sie den Kopf und setzte sich. Ihr brauner, bis über die Knie reichender Rock und die dunkle Bluse, dazu die fast vollständig ergrauten Haare und das ungeschminkte Gesicht mit den Falten um Mund und Augen ließen sie älter erscheinen, als sie vermutlich war. Aus Freya Epps Protokoll wusste ich, dass Cölestin Korbinian am ersten Mai seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, seine Frau schätzte ich auf Mitte fünfzig, auch wenn man sie auf den ersten Blick für älter halten konnte.
    Sie war eine unauffällige Person, die sich fast geräuschlos bewegte und die, wie ich bald feststellte, nicht gern redete, schon gar nicht in Gegenwart von Fremden.
    »Warum ist das Foto schwarzweiß?«, sagte ich.
    Ich hielt den Schnappschuss aus Meran noch immer in der Hand.
    »Wir haben nur schwarzweiße Fotos«, sagte Olga Korbinian.
    »Warum?«
    Sie wandte sich ab.
    Jetzt bemerkte ich zwischen den unzähligen Bildern an der Wand eines, auf dem das Ehepaar an einem langen Holztisch saß, eine Maß Bier vor sich, die genau zwischen den beiden stand, als solle das massive Glas den Abstand verdecken, in dem Olga und Cölestin sich hingesetzt hatten.
    Wir betrachteten beide das Foto, ohne etwas zu sagen.
    »Auf dem Foto aus Meran sieht Ihr Mann sehr ernst aus«, sagte ich.
    Sie nickte und lächelte schnell und unscheinbar.
    »Er lässt sich nicht gern fotografieren«, sagte ich. Sie schüttelte kurz den Kopf.
    »Meine Kollegin, mit der Sie gesprochen haben, hat mit Magnus Horch telefoniert«, sagte ich und legte das Foto auf den Tisch. »Er sagt, er hat Ihren Mann getroffen, und sie haben gemeinsam auf dem Viktualienmarkt ein Bier getrunken. Dann hat sich Ihr Mann von ihm verabschiedet, ziemlich plötzlich, wie Herr Horch sagte. Haben Sie eine Erklärung dafür, Frau Korbinian?«
    Sie reagierte nicht, jedenfalls nicht so, dass man es ihr ansah. Ich trank noch einen Schluck Wasser und ging zum Fenster. Die Gardine roch frisch gewaschen. Ich beobachtete zwei Jugendliche, die mit ihren Mountainbikes in einem engen Kreis fuhren und sich dabei gegenseitig Feuer für ihre Zigaretten gaben, danach rissen sie die Räder in die Höhe wie Pferde, die Zigaretten im Mundwinkel, und balancierten gekonnt auf dem Hinterrad, jeder konzentriert auf seine Kunststücke, von einem Bordstein zum anderen.
    »Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte Olga Korbinian hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah sie mich an. Aber obwohl sie soeben gesprochen hatte, kam es mir vor, als warte sie seit langer Zeit auf ein Wort, das ihr leicht fiel. Sie hatte den Mund halb geöffnet, den Kopf leicht vorgestreckt, die Augenbrauen nach oben gezogen, als wäre sie zugleich neugierig und von unbestimmten, beunruhigenden Ahnungen erfüllt.
    »Was haben Sie getan?«, fragte ich auf die Entfernung. Regungslos, ohne zu blinzeln, schaute sie zu mir her. Ich wartete, strich mir die Haare aus dem Gesicht und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, erwiderte ihre Reglosigkeit.
    Sie senkte den Kopf, und ich nahm es als Zeichen,
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